Di Pierro Ensemble Diderot Pramsohler Fra l'ombre e gl'orrori

Nahuel Di Pierro – Ensemble Diderot/Johannes Pramsohler: Fra l’ombre e gl’orrori

 

Sie haben noch nichts für einen Barockmusik-Liebenden zu Weihnachten? Sie suchen etwas ganz Spezielles, aber trotzdem Zugängliches? Der oder die zu Beschenkende liebt Vokalmusik und erwartet auf jeden Fall ein hohes Niveau aller begleitend Musizierenden? Sie wünschen sich außerdem ein Booklet, das die wesentlichen Verbindungen zwischen CD und Hörenden herstellt und trotz aller Informationsdichte und fachlicher Tiefe angenehm geschrieben, also flüssig zu lesen ist?

 

Dann sind Sie mit „Fra l’ombre e gl’orrori“ mit Nahuel Di Pierro und dem Ensemble Diderot unter der Leitung von Johannes Pramsohler bestens bedient. Di Pierro, ein Weltstar, wurde in Buenos Aires geboren und ist ehemaliges Mitglied der Académie der Pariser Opéra und des Young Singers Projects der Salzburger Festspiele. Als echter Bass widmet er sich nicht nur dem Belcanto, sondern gerne auch der Alten Musik.

 

Und hier kommt Johannes Pramsohler als Leiter des Ensemble Diderot ins Spiel. Er hat die Stücke für die CD sorgfältig ausgesucht. Die Playlist, die sich daraus ergibt, ist ausgesprochen reizvoll, denn sie enthält bewusst unbekanntere Musik – auch von bekannten Komponisten. Neben Monteverdi, Bononcini, Händel, Vivaldi und Alessandro Scarlatti gibt es Stücke von Rossi, Cavalli, Satorio, Ziani und Gianettini.

 

Es ist eine große Freude, wie Pramsohler in seinem Vorwort die entsprechenden Zusammenhänge erklärt, denn es stimmt eben nicht, dass die „Bassstimme für nichts anderes geeignet ist, als für die Emotion des Zornes“ (Benigne de Bacilly, 1668)! Es ist ein Erlebnis zu hören, wie Di Pierro all die unterschiedlichen Facetten der jeweiligen Musik schillern lässt.

 

Anders als der Bariton vermittelt die Bassstimme im Zeitalter des Barock auf der Bühne Adel und Autorität. Das Musizieren des sechzehn Musiker umfassenden Ensembles Diderot ist genau wie die Arien und Rezitative des Solisten geprägt von präziser Klangvorstellung und gekonnter barock inspirierter Ausführung. Die offenkundige Freude der Musizierenden überträgt sich somit direkt auf die Hörenden.

 

Und noch etwas ist erfreulich: CD und Booklet sind wie alle Produkte von Audax Records ausgesprochen schön gestaltet, die Optik entspricht also genau dem musikalischen Inhalt. Fast 75 Minuten beträgt die Abspielzeit – was für ein Hörvergnügen!

 

„Fra l’ombre e gl’orrori“ ist als ADX 11210 unter der ISBN 3760341112103 erschienen. Seit dem 15. November 2024 ist diese CD neu im Handel. Meine Empfehlung: ein ideales Weihnachtsgeschenk.

 

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Lautten Compagney Berlin The Lute Songbook

Lautten Compagney Berlin – The Lute Songbook

 

Seit vierzig Jahren macht die Lautten Compagney Berlin gemeinsam Musik. Ihr Gründer Wolfgang Katschner blickt zurück auf diese Zeit und bietet uns im ausführlichen Booklet einen biografischen Rückblick mit zahlreichen Bildern als Grundlage für alte und neue Musik vom Feinsten.

 

Die CD selbst beginnt mit ganz alter Musik, dem „Ave Maris Stella“ von Guillaume Dufay. Es folgen neu eingespielte Titel der ganz Großen der alten Musik: John Dowland, Henry Purcell, William Byrd und Hans Leo Hassler. Wie erfreulich, dass auch weniger bekannte Komponistinnen und Komponisten wie Thomas Robinson, Ludwig Senfle, Barbara Strozzi und Tarquinio Merula unser Ohr erfreuen.

 

Geschickt baut Katschner dazu eine Brücke in die neue und neueste Musik. In Percy Mayfields „Hit the Road Jack“ begegnet uns ein altes barockes Prinzip, das des Quartbasses, über dem sich das musikalische Geschehen entfaltet. Ganz bezaubernd und außergewöhnlich dann die Bearbeitung von „Psyche“ der Gruppe „Massive Attack“. Köstlich die Verknüpfung des Beatles-Klassikers „Norwegian Wood“ mit dem Traditional „Greensleeves“.

 

Im Zentrum dieser Musik stehen Zupf- und Streichinstrumente. Hinzu treten je nach Titel und Aufgabe die anderen Musiker. Das geht nur mit Muszierenden, die ihr Instrument oder ihre Instrumente perfekt beherrschen und außerdem ihre Individualität in eine neue große Idee einmünden lassen. So brillieren beispielsweise Johanna Bartz und Martin Ripper an diversen Flöten und Peter A. Bauer an der Perkussion.

 

Liebevoll stellt Katschner Musiker und Stücke vor und betont, dass solche Musik nur denkbar ist als großer Dialog, übrigens an prominentem Ort: Die Aufnahmen entstanden im Freylinghausen-Saal in der Frankeschen Stiftungen in Halle.

 

Mit dieser Aufnahme macht Katschner sich selbst ein Geschenk und uns nicht minder. Dieser wunderbaren Musik wünsche ich viele Freunde, dem Verlag einen guten Verkauf!

 

Die EAN lautet 198028024020.

 

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Philippe Grisvard – Berlin Harpsichord Concertos

Philippe Grisvard – Berlin Harpsichord Concertos

 

Ensemble Diderot, Leitung Johannes Pramsohler

 

Manchmal ist es von Vorteil, sich auf etwas einzulassen, was man nicht kennt: Hier sind es Cembalokonzerte von Christoph Nichelmann, Carl Heinrich Graun, Christoph Schaffrath und Ernst Wilhelm Wolf, die nun im Jahr 2024 als CD erscheinen. Graun und Nichelman waren mir vom Namen her bekannt, Ersterer natürlich durch sein Oratorium „Der Tod Jesu“.

 

Tatsächlich brachte der Beginn der Regierung Friedrichs II. eine Kehrtwende in der Kunst am königlichen Hof. Plötzlich öffneten sich die in dieser Zeit die Residenzschlösser in Preußen für die Musiker eines neuen galanten Stils. Die Berufung Carl Philipp Emanuel Bachs an den friderizianischen Hof ist ein gutes Beispiel für diese neue Phase der Musikgeschichte.

 

Die Gattung „Cembalokonzert“ ist eigentlich ohne ihn schwer denkbar. Dennoch verzichten die Musiker um Philippe Grisvard bewusst auf Stücke von ihm. Stattdessen wagen sie sich mit vier Weltersteinspielungen auf unbekanntes Gelände, das vom großen Vorbild Johann Sebastian Bach dominiert wird, aber eben auch von neuen musikalischen Entwicklungen, die auf den „liebliche-sanften“ Stil zuführen.

 

Aus dieser „Berliner Schule“ ragt natürlich Graun als preußischer Kapellmeister heraus, bekannt durch zahlreiche Bühnenwerke. Weitaus weniger bekannt ist Nichelman, ein Schüler der Thomasschule in Leipzig, der dort als Diskant in Bachs Kantatenaufführungen auftrat und viel später am Hof Friedrichs II. zweiter Cembalist wurde.

 

Schaffrath aus Hohnstein bei Dresden gehörte der kleinen Kapelle an, die Friedrich II. als Kronprinz gründete. Später arbeitete er für Prinzessin Anna Amalia. Ernst Wilhelm Wolf stammt aus Gotha und war Schüler des dortigen Kapellmeisters Gottfried Heinrich Stölzel, später stark beeinflusst durch Georg Benda.

 

Hinreißend ist der Klang, den Philippe Grisvard am Cembalo und seine Mitmusizierenden erzeugen. Alle Töne werden erst genommen und es wird frisch und gemäß den Regeln der historisch informierten Aufführungspraxis musiziert. Wie sich die Musiker dieses Sextetts dabei die Bälle zuspielen, ist eine große Freude. Große Kunst, meisterhaft dargeboten mit einer Leichtigkeit, die ungewöhnlich erscheint. Was für ein Hörvergnügen!

 

Eine weiteres Vergnügen ist das ausführliche und wie immer liebevoll gestaltete Booklet, das ein Markenzeichen des kleinen, aber feinen Labels Audax Records ist. So erhält der ausführliche Kommentar von Peter Wollny, ergänzt durch Anmerkungen von Phillip Grisvard, einen würdigen Rahmen.

 

Die unter der Nummer 3760341112110 bei Audax Records erschienene CD ist ein kleines Juwel, dem ich ganz viele Hörer wünsche. Ab dem 7. Juni 2024 ist das Album im Handel erhältlich.

 

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George Frideric Handel – Freedom – Oratorio Arias

George Frideric Handel – Freedom – Oratorio Arias

 

Oscar Verhaar, Countertenor – La Sfera Armoniosa – Mike Fentross, Leitung

 

Dass ein Solist sich gewissenhaft auf den Stoff vorbereitet, den er für ein Konzert oder eine Aufnahme einsingen möchte, ist selbstverständlich. Dass er aber selbst forschend in Erscheinung tritt, also sehr genau auch das historische Umfeld seiner musikalischen Arbeit ausleuchtet, ist ungewöhnlich. Dies zeigt sich in einem ausgesprochen klugen Vorwort in englischer Sprache.

 

Die sängerischen Voraussetzungen, die Oscar Verhaar für diese Aufnahme mitbringt, könnten nicht besser sein: Nach einem Studium des Early Music Singing Master am Königlichen Konservatorium Den Haag, das er mit Auszeichnung abschloss, nahm er Meisterkurse unter anderem bei Michael Chance und Peter Kooy. Zahlreiche Konzertauftritte im Inland und Ausland weisen ihn als vielseitigen und neugierigen Interpreten alter Musik aus.

 

Die vorliegende CD beschäftige sich mit dem Thema der Freiheit, die in fast allen Oratorien Händels eine eminent wichtige Rolle spielt. In den biblischen Geschichten, die er vertont, geht es um das Spannungsfeld aus Widerstand, Unterdrückung, Gefangenschaft und letztlich eben um das Gegenteil – die Freiheit. Acht Arien aus ganz unterschiedlichen Oratorien, nämlich Deborah, Samson, Alexander Balus, Belshazzar, Joseph and his Brethren, Saul und Jephta zeigen uns einen glänzend aufgelegten Sänger, dessen Stimme immer weich und trotzdem durchsetzungsfähig klingt, ganz egal ob es um ein energisches Rezitativ, eine fordernde Arie oder eine elegischen Klage geht.

 

Zusammen mit dem Ensemble La Sfera Armoniosa unter der Leitung des bekannten Lautenisten Mike Fentross entsteht ein großer und trotzdem immer differenzierter, transparenter Gesamtklang. Wie schön das Orchester auch allein musiziert, wird deutlich, wenn wir die Ouvertüre zu Susanna (HWV 66) genießen dürfen. Eine Hörfreude der besonderen Art!

 

Diese unter der Nummer 0608917297324 bei Challenge Classics – einem kleinen, ganz vielgestaltigem Label aus den Niederlanden – erschienene CD ist ein kleines Juwel, dem ich ganz viele Hörer wünsche. Ab dem 5. April 2024 ist sie im Handel erhältlich.

 

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Heindlmeier La Ninfea - Gentleman for a day

Barbara Heindlmeier, Blockflöte, und Ensemble La Ninfea - Gentleman for a Day

 

Wie mag ein Gentleman des 17. Jahrhunderts in London den Tag verbracht haben? Eine musikalische, aber auch lukullische Antwort geben Barbara Heindlmeier und ihr Ensemble Ninfea mit dem aktuell bei Perfect Noise erschienenen Album „Gentleman for a Day“.

 

Der vorgestellte Gentleman von damals war musikgebildet, spielte Flöte und hatte gute Beziehungen zum Hof. Wir gehen mit ihm durch den Tag, erleben ihn beim Aufwachen und Aufstehen mit Musik von Matthew Locke, Henry Purcell, Andrew Parcham. Zuerst nimmt er ein durchaus deftiges Frühstück ein mit John Playford sowie dem Ohrwurm „Greensleeves“. Dann geht es an den Hof. Hier trifft er auf Georg Friedrich Händel und musiziert mit ihm. Vielleicht sogar gemeinsam mit dessen wohl berühmtester Blockflötenschülerin Prinzessin Anne?

 

Am Nachmittag hält sich der Gentleman im Park auf und genießt im Kaffeehaus seinen Tee. Dass er dabei Erdbeeren mit Sahne zu sich nimmt, scheint ausgemacht. Passend dazu gibt es Musik von Händel, Playford und William Williams. Oft wurden bei solcher Gelegenheit zarte Bande zum anderen Geschlecht geknüpft – unter Zuhilfenahme der eigens mitgeführten Blockflöte.

 

Ein abendlicher Opernbesuch in Händels Oper „Agrippina“ dient der ausgedehnten Kontaktpflege, die spätere Geselligkeit mit Freunden führt zur Hausmusik, um das Hörerlebnis nachklingen zu lassen. Mit dem (feucht-)fröhlichen „Ground after the Scotch humour“ von Nicola Matteis werden die Gäste verabschiedet. Es ist nun Zeit für die Nachtruhe, Zeit für Musik von Jacob von Eyck mit seiner berühmten „Englischen Nachtigall“ und für Purcell mit einem Ground über ein Motiv aus „Timon of Athens“. Und danach, wer weiß, genießt der Gentleman – musikalisch begleitet – gar noch weitere Freuden. Worüber er selbstverständlich schweigt …

 

Nicht schweigen möchte ich über dieses wunderbare musikalische-kulinarische Album, das alle Sinne verwöhnt. Das professionell wie liebevoll designte Booklet entführt mit Zitaten aus den Tagebüchern des Samuel Pepys, Chronist seiner Epoche, in die Welt des 17. Jahrhunderts und macht Appetit auf die damaligen opulenten Speisen – siehe auch die Webseite von „La Ninfea“. Vor allem begeistert die Musik durch das großartige Können dieses Emsembles rund um die hervorrragende Flötistin Barbara Heindlmeier. Das ist Alte Musik von einer mitreißend lebensfrohen Seite, auf höchstem Niveau gemacht und augenzwinkernd vermittelt.

 

Die CD „Gentleman for a Day“ des Labels Perfect Noise ist im Fachhandel oder zum Beispiel bei JPC gelistet. Konzerttipp: Am 18. Februar 2024 gibt es „Ein Tag als Gentleman in London um 1700“ im Sendesaal in Bremen, dem Aufnahmeort der CD. Nichts wie hin!

 

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Lust_voll 3. Sinfonie Konzert 2023 in Schleswig

3. Sinfoniekonzert 2023/2024 „lust_voll“

 

Sagen Ihnen die Namen Friedrich Wilhelm Kücken oder Hans Sommer irgendetwas? Mir nicht – und viele anderen, die sich am 28. November 2023 in Schleswig in der A. P. Møller Skole um 19:30 Uhr zum dritten Sinfonie Konzert der aktuellen Saison eingefunden hatten, auch nicht. Ich freue mich, dass ich an diesem denkwürdigen Abend mein Repertoire erheblich erweitern konnte und trotzdem auch das eher Altvertraute zum Zuge kam. Aber eins nach dem anderen.

 

Das Konzert begann mit dem „Mondschein auf dem Meere“, ein Stück eines Komponisten aus Lüneburg, der im 19. Jahrhundert ein beliebter, bekannter Liederdichter war und danach in Vergessenheit geriet. Gemeinsam mit dem Schweriner Verleger Reinhard Wulfhorst bemüht sich die Solistin des Abends Sophia Maeno, Mezzosopran, seit Jahren um das Œuvre. Und wer ihrer weichen und dennoch durchsetzungsfähigen und sprechgewaltigen Stimme lauschte, wusste sofort, warum. Ich fühlte mich an Schubert und Mendelssohn erinnert; ein ganz wunderbares Stück Musik.

 

Ein weiteres Mal wandelte das Auditorium auf den Spuren eines Unbekannten. Mit Hans Sommers „Sapphos Gesänge“, einer Hommage an die bedeutendste Verfasserin von Gedichten in der griechischen Antike, gab es die Gelegenheit, dem wunderbaren Dialog in sechs Stationen zwischen Orchester und Sängerin zu folgen. Diesmal erinnerte mich die Musik mehr an die von Johannes Brahms. Auch dieses Stück war orchestral bestens musiziert und phantastisch gesungen.

 

Eingerahmt wurden diese Entdeckungen von zwei Klassikern: der vielseitigen Fantasie-Ouvertüre „Romeo und Julia“ von Peter Tschaikowski und der wuchtigen, aber zum Teil auch tänzerischen 4. Sinfonie von Johannes Brahms. Ein sichtlich gut gelauntes und unter energisch-behutsamem Dirigat von Generalmusikdirektor Ingo Martin Stadtmüller aufspielendes Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester meisterte alle Klippen dieser spätromantischen Klassiker.

 

So erhielt die Ballett-Ouvertüre von Tschaikowski eine genau ausbalancierte Farbigkeit, die einen das Grau-in-Grau-Wetter der letzten Tage sofort vergessen ließ. Es stimmt: Hier wird, wie der Komponist meinte, allein „die Liebe“ verhandelt und alles, was dazu gehört, wirklich alles. Ein Erlebnis!

 

Die vielgestaltige letzte Sinfonie von Johannes Brahms war das I-Tüpfelchen für diesen schönen Hör-Abend. Kaum zu glauben, dass Brahms selbst an deren Erfolg zweifelte. Das Orchester nahm jede Note ernst und lieferte eine denkwürdig schöne Interpretation. Bläser und Streicher ergänzten einander, denn nie wurde nur in Einzelinstrumenten oder Gruppen gedacht. Alles klang wie aus einem Guss. Bravo!

 

Ich habe mich an diesem 28. November glänzend unterhalten. Karten für diese gelungene Mischung aus Alt und Neu gibt es dieses Jahr noch für den 1. Dezember in Rendsburg, den 2. Dezember in Itzehoe und den 7. Dezember in Husum. Machen Sie sich auf, es lohnt sich unbedingt. Und falls Sie es noch nicht getan haben, zeichnen Sie ein Abonnement für die nächste Spielzeit.

 

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But Beautiful – Duo Tour Philip Catherine und Martin Wind, Station Husum

 

Jazzclub Englischer Bahnhof am 22. April 2022

 

Nach Bramsche, Hannover, Berlin und vor Hamburg gaben zwei Jazzmusiker im „Englischen Bahnhof“  in Husum ein Duo-Konzert, das alle, die dabei waren, restlos begeisterte. Eingeladen hatte das Ehepaar Beliaeff, Betreiber des Clubs und durch die „Nordfriesische Metallkunst“ im Norden wohlbekannt.

 

So bemerkenswert wie das Interieur dieser intimen Location war auch die Musik der beiden Ausnahmemusiker. Philip Catherine, berühmt durch seine Mitwirkung in zahlreichen Jazzformationen von Weltruf, spielte eine wie immer ungeheuer wandlungsfähige Gitarre. Als Sideman von Chet Baker, Tom Harrel, Charles Mingus oder Karla Bley hat er sich zu einem Musiker von Weltruf entwickelt. Und das konnte man auch in diesem Konzert hören. Sein Alter spielte und spielt keine Rolle. Sein Können und seine unaufgeregte Professionalität waren auch an diesem Abend schier unglaublich.

 

Aber das alles wäre ohne den Zweiten im Bunde nicht dasselbe gewesen: Martin Wind, der den Kontrabass zupfte und strich. Wind, der heute in New York lebt, ist trotz seines jungen Alters ein Musiker, der sich dort und überall einen tollen Ruf erarbeitet hat, unter anderem mit Pat Metheny, John Scofield oder Kenny Barron.

 

Nach den Gesetzen der Arithmetik sind eins und eins zwei; an diesem Abend war es ein Vielfaches mehr. Und so reihte sich ein Titel glücklich an den anderen, denn Catherine und Wind waren nicht nur angetreten, um Evergreens – wie „Fried bananas“ von Dexter Gordon oder „How deep is the ocean“ von Irivin Berlin – zum Besten zu geben. Sondern beide sind auch durch ihre eigenen Kompositionen hervorgetreten: „L’éternel Desir“ von Catherine oder „Song for D.“ von Wind entwickelten ihren ganz eigenen Charme in einer genialen Mischung aus verhalten-intensivem oder fröhlich-lautem Musizieren.

 

Das Publikum dankte es ihnen mit nicht enden wollendem Beifall. Könner sind nicht selten arrogant – nicht so Catherine oder Wind. Freundlich und, wenn es sein durfte, auch schalkhaft gingen beide auf die Wünsche des Publikums oder dessen Lautäußerungen ein. Aber es gab dann auch plötzlich ein tiefen Ernst, wenn es um den Trompeter und Flügelhornspieler Ack van Royen ging, der im November 2021 verstorben ist und der noch in einem neueren Projekt der Firma Laika mit Wind und Catherine mit eingebunden war.

 

Nach einer Zugabe waren beide Musiker gerne bereit, Tonträger zu signieren und mit dem Publikum auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen. Genauso dialogisch, wie zuvor gespielt worden war, ging der Abend also zu Ende.

 

Zwei CDs empfehle ich all denen, die nicht im Konzert dabei sein konnten:

 

Philip Chatherine & Martin: Duo Art. Label: Act

 

Philip Catherine, Martin Wind und Ack van Royen: White noise. Label: Laika

 

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„Happy Birthday, George!“


 

Konzert zum 337. Geburtstag von Georg Friedrich Händel

 

 

Sie haben es endlich wieder getan: Fünf Musiker, die schon in den letzten Jahren zu Händels Geburtstag am 23. Februar 2022 dabei waren, haben in der Dreifaltigkeitskirche in Schleswig-Friedrichsberg ein Konzert zu Ehren des Komponisten gegeben. Cornelia Kempf, 1. Geige, Markus Pertiet, 2. Geige, Claudia Bergmann, Sopran, Carsten Schmolling, Flöte, Armin Teschner, Violoncello, und Nancy Sartin, Cembalo, boten fast eine Stunde lang Vokal- und Instrumentalmusik vom Feinsten. Wichtig war ihnen, dass Werke aufgeführt wurden, die man selten hört, weil sie in den üblichen Veranstaltungsprogrammen klassischer Musik so gut wie nicht vorkommen.

 

Die Musik begann mit einer Triosonate Nr. 1 von Arcangelo Corelli, eine der zwölf Kirchensonaten, die der Komponist 1689 als Opus 3 dem Herzog Francesco II. von Modena widmete. Das Terzett aus 1. und 2. Geige sowie Cembalo warf sich gekonnt und fein ausbalanciert die Bälle zu.

 

In der sich anschließenden Kantate von Teleman, „Wandelt in der Liebe“, TWV 1:1498 für den Passionssonntag Oculi 1725, boten Flöte, Sopran und Cello einen ebenfalls präzise abgestimmten Klang. Großartig, wie sich Instrumente und Stimme einzeln in ihrem Kontext entwickelten und je nach Erfordernis forte oder pianissimo ergänzten.

 

Nancy Sartin hatte sich etwas besonders Anspruchsvolles ausgesucht: die „Essercizio 2“ für Cembalo des barocken „Tastenlöwen“ und Komponisten Domenico Scarlatti, der nach Stationen in Italien und Portugal als Lehrer der spanischen Königin in Spanien mit dieser außergewöhnlichen Musik Weltruhm erlangte. Bravourös meisterte Sartin die vielen Klippen dieses Stücks.

 

Carsten Schmolling löste seine große Aufgabe in der Sonate op. 3 Nr. 6 aus „Il Pastor fido“ von Nicolas Chédeville ausgezeichnet und füllte die ganz unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen Sätze dieser späten Barocksonate mit Leben. Man könnte übrigens tatsächlich meinen, dass diese Musik von Vivaldi komponiert worden wäre!

 

Die große Stunde des Soprans lag im abschließenden  „Gloria in excelsis“ von unserem Geburtstagskind. Das lange Jahre verschollene Stück Kirchenmusik des frühen Händel war für alle Beteiligten eine enorme Herausforderung. Es wurde durch das harmonische und mitreißende Zusammenspiel zu einem wunderbaren Klangerlebnis.

 

Immer wieder gab es verdienten Beifall, sowohl während als auch am Ende dieses Konzerts. Erfreulicherweise war die Dreifaltigkeitskirche trotz der Corona-Einschränkungen ausgesprochen gut besucht.

 

Meine eigene Aufgabe war es, ein wenig zu den einzelnen Stücken zu sagen und damit zum Rahmen dieses Konzerts beizutragen.

 

Mahela T. Reichstadt, Domorganistin und Kirchenmusikverantwortliche für Schleswig, bedankte sich zum Schluss im Namen der Kirchengemeinde mit einem Präsent bei den am Abend Beteiligten. Der Wunsch des Publikums war deutlich zu erkennen: Hoffentlich gibt es 2023 am 23. Februar wieder solch ein musikalisches Fest zu Händels Geburtstag!

 

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2. Sinfoniekonzert des SHS - Dramatische Melancholie

 

2. Sinfonie Konzert des Schleswig-Holsteinischen Sinfonieorchesters am 26. Oktober 2021 in der A. P. Møller Skolen in Schleswig

 

Dramatische Melancholie - zum 100. Todestage von Camille Saint-Saëns

 

Wie lange haben wir das alles vermisst: die unterschiedlichen Streicher und Bläser, die Harfe, das Schlagwerk, den Klang der Instrumente beim Stimmen, die Spannung, die sich aufbaut, wenn der Dirigent den Stab hebt und das Gespräch im Publikum verstummt. Keine Ton-Konserve kann all das ersetzten, mag sie noch so exquisit besetzt und ausgefeilt aufgenommen worden sein.

 

Vor fast 100 Jahren starb Camille Saint- Saëns 1921 in Algier. Anlass genug für das Schleswig-Holsteinische Sinfonieorchester in einer ganzjährigen Aufführungsreihe seinen Einfluss auf die europäische Musikgeschichte an Hand eigener Werke und der berühmter Kollegen, hier Claude Debussy und Maurice Ravel, aufzuzeigen.

 

Und so hatten wir an diesem Abend besonderes Glück: die beiden Cello-Konzerte des Jubilars, op. 33 und insbesondere das zweite, op. 119, sind selten zu hören. Der Solist des Abends, der hochangesehene Alban Gerhardt aus Berlin, hat uns mit seiner großen Virtuosität und profunden Musikalität diese zwei Musikstücke in Gänze erschlossen. Und wie schön leise und einfühlsam Gerhardt in den entsprechenden Passagen musizierte und wie gekonnt das Orchester unter Kimbo Ishii darauf reagierte. Es war eine Freude: die sich noch steigerte, als der Solist des Abends den „Schwan“ aus dem „Karneval der Tiere“ als Zugabe zum Besten gab, in einem wunderbaren Dialog mit der Harfe und den erstaunlich disziplinierten Streichern.

 

Die ursprünglich für Klavier zu vier Händen komponierte und erst um 1907 orchestrierte „Petite Suite“ von Claude Debussy eröffnete den Abend. In insgesamt vier Einzelstücken, die sich zum Teil an Gedichten von Paul Verlaine orientieren, hatte das Orchester Gelegenheit genug, sich dem Publikum als hellwaches, aufgeschlossenes und homogenes Ganzes zu präsentieren. Besonders eindrucksvoll gelang dies im fröhlichen „Cortege“, mit seiner ganz speziellen fast hüpfenden Tongebung.

 

„Ma mère l’oye“ schrieb Maurice Ravel 1908 als eine Sammlung von Kinderstücken für Klavier, vierhändig. Im Jahr 1911 orchestrierte er sie selber. Diese basierten zum Teil auf der berühmten, gleichnamigen Märchensammlung von Charles Perrault. Und was macht Ravel aus dieser Vorlage? Unglaubliches! Einige dieser Stücke sind dadurch sehr bekannt geworden. So wohl  auch der Schluss „Le jardin féerique“ - keine einfache Aufgabe für das  Orchester, das aber - glänzend aufgelegt - gekonnt alle Facetten dieser wandlungsfähigen Musik zum Klingen bringt und uns so zu einem Klangerlebnis der besonderen Art verhalf.

 

Viel Beifall an diesen Abend: großer Applaus, der kaum enden will. Ich freue mich schon jetzt auf das nächste Konzert am 30.11. 2021 in die A. P. Møller Skolen, zur „Klangreise“ mit dem Schleswig-Holsteinischen  Sinfonieorchester. Wie schön, dass es ab Januar 2022 wieder ein Abonnementsangebot für das kommende Jahr gibt. Das möchte ich gerne zeichnen.

 

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Merry Old England II Konzert mit Concertino Schleswig-Holstein

 

Immer wieder öffnet die St.-Johannis-Klosterkirche in Schleswig ihre Pforten für die Aufführung Alter Musik. Concertino Schleswig-Holstein, das sind in diesem Konzert Bethany Webster-Parmentier und Cornelia Kempf (Barockvioline), Thomas Petersen-Anraad (Barock-Violoncello), Gero Parmentier (Laute und Theorbe) und Kent Pegler v. Thun (Spinett), hatten am 17.Oktober 2020 eingeladen und ganz viele sind dieser Einladung gefolgt. Trotz oder wegen Corona: Das Konzert war ausverkauft; keiner der auf Abstand geplanten Plätze war mehr frei!

 

Ina von Samson-Himmelstjerna, die Priörin des Klosters, ließ es sich nicht nehmen, „Merry Old England II“ als das Motto dieses Abends anzusagen, begrüßte das Ensemble für Alte Musik sehr herzlich und freute sich über den guten Besuch. Wie schön, dass Gero Parmentier nicht nur ein hervorragender Lautenist ist, sondern auch verständlich und humorvoll durch den Abend führte und zum Beispiel erklärte, dass Georg Friedrich Händel fast die gesamte Zeit seines Lebens in England wirkte und darum völlig zu Recht in einem Programm mit genuin britischer Musik auftaucht. Und so machte eine der fast zwanzig Triosonaten Händels, die von den Mitwirkenden ganz im Sinne einer intimen Kammermusik vorzüglich ausgeführt wurden, den Anfang. Schön, wie die vier einzelnen, ganz unterschiedlichen Sätze musikalisch nachgezeichnet wurden.

 

William Croft, ein Zeitgenosse Henry Purcells und Schüler von John Blow, schrieb neben der Sakralmusik, die er als Organist der Westminister Abbey komponierte, mehrere Sonaten für Geige. Die Sonate „Violine Solo in g-moll“ bot Kent Pegler v. Thun und Cornelia Kempf Gelegenheit, in einem Duett zu zeigen, wie differenziert Musik des Barock klingen kann; gerade die abschließende Gigue, die ausgesprochen fröhlich-luftig daherkam, hat mir besonders gefallen.

 

John Dowland, ein Zeitgenosse Shakespeares, hat über einhundert Stücke für Sololaute geschrieben, etwa dieselbe Anzahl an Lautenliedern und einigen Consort-Stücke für Gambe und Laute. „A Dream“ ist ein eher ruhiges, trotzdem sehr intensives Stück Lautenmusik, das Gero Parmentier souverän zu Gehör brachte.

 

Händel hatte das folgende Concerto ursprünglich als Orgel-Konzert konzipiert und es dann – wie damals durchaus üblich – zum Orchesterstück umgearbeitet. Einmal mehr warfen sich die Musizierenden gekonnt die Bälle zu und brachten diese Musik ganz duftig zu Gehör.

 

John Ravenscroft, in England geboren, war ein Geigenschüler Arcangelo Corellis und komponierte in Rom eine Reihe von Triosonaten. Deren erste wurde nun dargeboten, und schon nach wenigen Tönen war klar, warum von ihm nachgelassene und später publizierte Musik durchaus immer wieder fälschlicherweise Corelli zugeschrieben wurden. Ein ganz wunderbares Stück!

 

Wissen Sie, was ein „Ground“ ist, rein musikalisch betrachtet? Kent Pegler von Thun erklärte es am Beispiel eines Werkes von Henry Purcell, das er anschließend am Spinett solo vortrug. Ein „Ground“ ist zunächst einmal eine Melodie, die meist im Bass liegt und mehrmals bis vielmals hintereinander erklingt. Diese Musik tritt auch gewöhnlich nicht für sich auf, sondern als Fundament für ein, zwei oder mehr Oberstimmen jeglicher Art, die sich über dem Bass in fröhlichen Variationen ergehen. Da dieses Modell nicht nur in Italien – wo es wahrscheinlich entstand – viele Freunde besaß, wurde es auch in England zu einer Gattung, die Henry Purcell gerne nutzte. Herrlich, wie Pegler von Thun dies anhand von zwei Stücken demonstrierte.

 

Und dass dieses Modell auch mit Theorbe und Violine funktioniert, zeigte das nächste Stück, das das Ehepaar Webster-Parmentier/Parmentier gemeinsam vorstellte. Um es kurz zu sagen: ein Ohrenschmaus, der schnell zum Ohrwurm werden kann.

 

Zum Abschluss des Konzertes erwartete uns ein Stück von Telemann. Nein, das hatte mit „Merry Old England“ nichts zu tun, aber mit einem interessanten Irrtum. Lange Zeit wurde diese Musik nämlich Händel zugeschrieben, sie stammt aber tatsächlich von Telemann. Und damit schließt sich der Kreis, denn Telemann und Händel waren gut befreundet! Mehrfach schickte Händel Telemann Pflanzen und Blumen, denn er wusste um die Gartenbauaffinität des Hamburgers. Mit diesem Concerto verabschiedeten sich die Musiker von Concertino Schleswig-Holstein und entließen ein begeistertes Publikum in den Abend: mit großem Engagement und einem fein ausbalancierten Klang, ganz herrlich.

 

Dieses Konzert in der Corona-Zeit vor dem „zweiten Lockdown“ war eine großartige Werbung für die Alte Musik und für einen überzeugenden Veranstaltungsort, der zunehmend in das Bewusstsein der Bevölkerung rückt: die schöne Kirche des St.-Johannis-Klosters in Schleswig.

 

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In Memoriam John Abercrombie

In Memoriam John Abercrombie

Am 22. August ist er gestorben mit gerade mal 72 Jahren. Die Kritik ist sich einig: er war einer der ganz großen, einer der Stilprägenden, ein Meister der Guitarre und der Mandoline, wie ich finde, der leise nuancierten Töne und der erstaunlich fingerfertig vorgetragenen Läufe. Und ich habe die Musik von und mit ihm, die ich besitze, erneut aufgelegt, also 8 bzw. 9 Alben aus dem Regal rausgefischt, alle bei ECM erschienen, diesem wunderbaren kleinen Label aus München.

 

Schnell haben sich beim Hören Gruppen herausgebildet, die durch die Besetzung begründet sind. Zum einen die Formation mit Jan Hammer und Jack de Johnette mit dem Album „Timeless“ aus dem Jahre 1975, verstärkt um den Trompeter Mike Brecker auf „Night“ in 1984. Gerade „Timeless“ hat nichts von seinem ursprünglichen Charme verloren. Die Stücke stehen für die verschiedenen Arten des Guitarrenspiels von Abercrombie: „Red and Orange“ für die kraftvolle, fetzige Darstellung, „Ralph’s Piano Waltz“ und das titelgebende „Timeless“ für eine lyrisch-sensible Musik. Auch wenn „Night“ nicht ganz die Dichte und Originalität ihres Vorgängeralbums erreicht, macht es viel Freude, diesem Quartett zu lauschen.

 

Die Kritik hat die Trioaufnahmen mit Dave Holland und JackDeJohnette, also „Gateway“ (1975) und „Gateway 2“ (1995), besonders gewürdigt. Verständlich, denn auf diesen Alben teilt sich eine unglaublich dicht musizierte Jazz-Kammermusik mit, über der die Guitarre Abercrombies wie eine aufgehende Sonne klingt. Das gilt ganz uneingeschränkt auch für die Quartettaufnahmen mit Richard Beirach, Georg Mraz und Peter Donald auf „Arcade“  von 1979 und „Quartet“, erschienen 1980. Es ist eine große Freude zu hören, in welcher Art sich Beirach und Abercrombie die Themen quasi zureichen und weiterentwickeln und wie Mraz und Donald sich in dieses Gespräch unter Musikern gekonnt einmischen.  Die SoloLP „Characters“ fällt ein wenig aus dem Rahmen: allein auf sich gestellt, übt Abercrombie hier ganz unterschiedliche Funktionen aus, gibt ein rhythmisches Fundament, begleitet und brilliert mit einer über allem schwebenden Mandolinenlinie, ganz wunderbar.

 

Wie wichtig Abercrombie als Begleitmusiker sein konnte, wird an einem anderem Album deutlich, das Enrico Rava mit ihm in 1977 aufgenommen hat. Wer wissen möchte, wie sich ein Musiker, der nicht führt, trotzdem phänomenal einbringen kann, braucht sich nur das recht ungestüme Titelstück „The Plot“ einmal genauer anzuhören. Erstaunlich und außergewöhnlich, wie der Begleitende die Melodielinie unterstützt, mit der Trompete dialogisiert, um dann mit einem eleganten Schlenker in eine gänzlich unterschiedliche, neue Phrase überzugehen und dadurch  musikalisch neues Terrain zu erschließen. Kein Wunder, dass Abercrombie ein gesuchter Sideman war: nicht nur Enrico Rava, sondern auch Gato Barbieri, Gil Evans und viele andere schätzten sein elegant-flexibles Spiel.

 

„Current Events“, meine letzte Abercrombie LP aus dem Jahre 1986, hab ich besonders gerne erneut gehört, zeigt sie mir doch deutlich an, dass Abercrombie auch durchaus in eine elegant populäre, aber niemals einfallslose Musikrichtung zielen konnte. Es ist traurig, dass ich diesen Guitarrenmagier nie live erleben konnte. Aber es bleiben zum Glück die Musik aus den hochwertigen Konserven von ECM.

 

Schade: ich hatte die Firma ECM mehrfach gebeten, mir eine Abbildung der entsprechenden LP Cover zu erlauben, habe aber bis heute keine Antwort erhalten. Der Blick auf die Seiten des CD Vertreibers JPC bestätigt allerdings, dass es einige der erwähnten Titel als CD Aufnahme nicht mehr gibt, vielleicht auch nie gegeben hat. Zum Nachhören, Nachprüfen und Vergleichen hilft da dann nur der Gebraucht-platten-handel. Es lohnt sich uneingeschränkt!

 

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Gato Barbieri - Caliente

Gato Barbieri - Caliente

Der Tod zweier völlig unterschiedlicher Jazzmusiker hat mich doch mitgenommen: im Oktober 2016 starb Dave Pike, am 2. April 2017 folgte ihm Leandro J. ,Gato‘ Barbieri. So unterschiedlich auch ihr musikalischer Werdegang gewesen ist, so eindrücklich hat sich ihre Musik mir eingeprägt, auch dann, wenn sie - zum Missfallen der Jazzpuristen - ihren Stil im Verlauf ihres Lebens mehr ins melodisch Swingende hin änderten.

 

Kennengelernt habe ich Gato Barbieri durchs Radio: in den späten siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es auf NDR 3 am Samstagabend eine in vieler Hinsicht außergewöhnliche Sendung, die sich - wenn ich mich recht erinnere - ,Insalata Musica‘ nannte und ein buntes Sammelsurium an nicht- mainstreamiger Musik anbot. Zu hören waren unter anderem Sinfonien von Schostakowitsch, Spanische Madrigale gesungen von den King Singers und eben auch Jazz, wie z.B. Gato Barbieri mit Stücken aus seinem Album ,Fenix‘ und eben auch aus ,Caliente‘.

 

Streicher und Jazz, ganz gewiss ein Kapitel für sich: für einige fast ein No-Go und ein Verrat an der Ursprünglichkeit des Jazz habe ich nichts gegen den dezenten Einsatz von Streichern. Übel wird es dann, wenn die Streicher den Charakter einer Aufnahme quasi verändern und verwässern. Dasselbe gilt natürlich auch für Funk-, Pop-, oder Elektronikeinflüssen.

 

Aber zurück zu ,Caliente‘, das bei A&M in 1976 erschienen ist. Das Cover nennt eine ganz erkleckliche Anzahl an exzellenten Begleitmusikern, unter anderem Lenny White als Schlagzeuger, Joe Beck und Ralph Mac Donald als Gitarristen und Eddy Martinez, den nicht unbekannten Keyboarder, natürlich auch Bläser und Streicher, die sogar namentlich genannt werden. Herb Alpert hat die Musik in New York produziert.

 

Barbieri tritt nicht nur als Tenorsaxofonist in Erscheinung, sondern auch als Arrangeur, genau wie seine Frau Michelle. Er liefert mit dieser CD eine gekonnte Mischung aus modernem Jazz mit folkloristischen Einflüssen, Rock und wohl auch Popanklängen: Musik also, die gewollt eingängig ist. Wobei es gewiss eine reizvolle Aufgabe wäre, Barbieri noch genauer auf seinem musikalischen Weg davor zu begleiten, denn immerhin gab es ja auf dem  Weg hin zu „Caliente“ auch andere, wesentlich rauere Klänge, z.B. auf den Alben „Fenix“, „Bolivia“  und „Under Fire“. Das mindert den musikalischen Ertrag für „Caliente“ für mich aber nicht: Diese Musik ist immer noch angenehm zu hören.  

 

"Caliente", 1976 im Label A & M Records erschienen,  ist nach wie vor lieferbar, entweder über den hoffentlich noch vorhandenen örtlichen Fachhandel oder aber auch über JPC.

 

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Dave Pike - Times out of Mind - Ein Nachruf

Dave Pike Times out of mind Ein Nachruf

Er war für mich einer der ganz Großen der Jazzmusik, aber nicht alle haben ihn als solchen wahrgenommen. Am 3. Oktober ist Dave Pike, ein Meister des elektrisch verstärkten Vibraphons, in Del Mar, Kalifornien, im Alter von 77 Jahren gestorben. Nach Kindheit und Jugend in Detroit und ersten musikalischen Erfolgen in San Francisco & New York mit namhaften Musikern wie Gene Russell, Carla Bley und Charlie Haden ging der Autodidakt Pike für ein paar Jahre nach Europa und wurde dort mit dem von ihm gegründeten „Dave Pike Set“, einer Formation um Volker Kriegel, Peter Baumeister und Hans Rettenbacher einem größeren Publikum bekannt.

 

Zu Beginn der Siebzigerjahre kehrte er wieder zurück in die USA; es entstanden wunderschöne Aufnahmen, wie die 1976 aufgenommene LP „Times out of Mind“ beweist. Aufgenommen mit Tom Ranier, Keyboards, Ron Eschete, Guitar, Ted Hawke, Drums, Luther Hughes, Bass, und nicht zu vergessen Kenny Burrell, der auf immerhin drei Titeln die Gitarre spielt, verbindet Pike hier souverän Einflüsse aus Latin-Jazz, Funk und Jazzrock zu einem ausgesprochen gut hörbaren Ganzen.

 

Handwerkliche Präzision, ein schön swingender Grundton und ein immer gut ausbalancierter Gruppenklang auf allen fünf Stücken machen diese Platte für mich zu einem großen Hörgenuss.

Sonderlich erfolgreich war diese Musik allerdings nicht, denn mehrere der in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren aufgenommenen Alben, wie z.B. „On a Gentle Note“ oder „Let the Minstrels Play on“ erschienen lediglich im LP-Format und nie auf CD. Michael Naura, der bekannte NDR-Jazz-Papst, bemerkte Anfang der achtziger Jahre in einer Sendung einmal am Rande, dass (selbst) ein Dave Pike in den USA nur noch als Angestellter einer Würstchenbude über die Runden komme, so schwierig war das Geschäft für Jazzmusiker zu dieser Zeit jenseits des großen Teiches.

 

Ich hatte Glück: 2005 erlebte ich das New Dave Pike Set feat. Michael Sagmeister mit dem Christoph Spendel Trio im Quasimodo beim Jazzfest Berlin – ein ausgesprochen kurzweiliger schöner Abend. Ich bedaure, dass die Jazzwelt nunmehr ohne diesen „Minstrel des Vibraphons“ auskommen muss.

Einen interessanten Eindruck vom Leben und der musikalischen Entwicklung von Pike vermittelt ein Kapitel in dem schönen Buch „American Jazz Heroes“ (Besuche bei 50 Jazz-Legenden) von Arne Reimer, das 2013 im Jazz thing Verlag erschienen ist und auch eine gute Diskografie enthält.

 

„Times out of Mind“, 1991 auf CD veröffentlicht, ist nur noch äußerst schwierig zu erwerben, denn das kleine, aber feine Label „Muse" aus New York, auf dem die LP ursprünglich 1976 erschien, gibt es seit 1995 nicht mehr.

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