
2017 erschien ein Buch, mit dem ich den Autor Henning Sußebach intensiv kennen- und schätzengelernt habe, nämlich „Deutschland ab vom Wege“. Ich war gespannt, ob der neue Titel – diesmal aus dem Beck Verlag – das Niveau des letzten würde halten können. Ich kann nur sagen: Das neue Buch ist fast noch beeindruckender, vielleicht eines der besten Sachbücher, die ich je gelesen habe.
Dabei ist die biografische Ausgangslage für Erkundungen über Sußebachs eigene Urgroßmutter eher dürftig, denn Anna Kalthoff ist 1867 geboren und 1932 gestorben. Hinterlassen hat sie einige Fotos, zwei Poesiealben aus ihrer Jugend, einige Notizbücher, wenige Briefe und Dokumente, ein Kaffeeservice, ein Sticktuch und einen Verlobungsring. Anna wurde als Tochter eines Schankwirtes in Horn im Lipperland geboren. Sie ist später als Lehrerin nach Cobbenrode im Sauerland gegangen und dort geblieben. Dazwischen gab es einen prägenden Aufenthalt in den Niederlanden.
Sehr schnell wird deutlich, wie gewichtig, aber auch wie verantwortungsvoll die Rolle des Urenkels für dieses Buch war. Er musste rekonstruieren, wie Anna gelebt hat. Dazu nutzte er alle ermittelbaren Quellen, die Aussagen über ihr Leben enthalten. Wer den Anhang dieses Buches anguckt, kann unschwer ermessen, wie viel Arbeit dafür aufzuwenden war. Und dass auch diese Arbeit nicht immer dazu führt, eindeutige Aussagen über Anna zu ermöglichen, denn die Bemerkungen über das Große, den Gesamtzusammenhang, passen nicht immer auf das Individuum.
Geschickt verbindet Sußebach seine Recherche mit synchronoptischen Informationen. Ein Beispiel: Im Jahr 1887 kommt Anna als Lehrerin nach Cobbenrode, um die gewünschte Lehrerinnenstelle anzutreten. Im selben Jahr erfindet Julius Maggi die weltbekannte Würze und der Bau des Nord-Ostsee-Kanals beginnt. Die berühmteste Oper von Guiseppe Verdi, Othello, wird am 5. Februar an der Mailänder Scala uraufgeführt. Der Leser erhält also eine zusätzliche Einordnungsmöglichkeit, eine Art von Zeit-Anmutung, die ihm hilft, eine Verbindung zur Hauptfigur dieses Buches zu finden.
Dabei ist sich Sußebach bewusst, wie begrenzt seine Möglichkeiten sind. Denn Anna war eine von den vielen nicht berühmten Namenlosen, die in ihrem Mikrokosmus einiges bewirkt hat und durchaus sympathisch eigensinnig ihren Lebensweg gegangen ist. Denn Anna heiratet gegen die Konvention eine der Dorfgrößen, muss sich in ihrer Ehe nach dem überraschenden Tod ihres ersten Ehemanns dann gegen dessen Geschwister behaupten. Später heiratet sie einen zwanzig Jahre jüngeren Mann – sicherlich ein Skandal im Dorf. Dennoch hat sie offenbar mit der sich damals formierenden Frauenbewegung keinerlei Kontakt gehabt. Ihr Eigensinn speist sich also aus anderen Quellen.
Sußebach weiß um die Grenzen seiner Erzählung. Sind tatsächlich die Motive Annas bzw. ihre Handlungen in unserer Zeit noch nachzuvollziehen? Kann man als später Nachkomme überhaupt unvoreingenommen erzählen oder urteilt man zu positiv oder zu kritisch? Wir beurteilen natürlich Anna nach unseren Kriterien. Wie werden aber andererseits wir selbst einmal von unseren Nachfahren beurteilt werden? Verschieben sich die Fragestellungen gemäß den Zeitläuften nicht so deutlich, dass uns nur die Fakten bleiben und die Bewertung anderen zu überlassen ist?
Dieses Buch über ein mutiges Frauenleben um die Jahrhundertwende hat mich angesprochen. Die sauber recherchierten Hintergründe haben mich überzeugt. Die uneitle Art des durchaus eleganten Erzählens hat mir Spaß gemacht. Ich bin sicher, die Leserschaft wird Anna ebenfalls schätzen lernen. Und nebenbei ganz viel über eine Zeit mitnehmen, die für uns schon wieder Vor-Geschichte ist, fassbar zwar noch, aber in manchem schon sehr fremd.
Die Gestaltung des Buches ist dem Beck Verlag ausgesprochen gut gelungen. Ein dezent gefärbter Leineneinband in Ocker korrespondiert mit einem farbgleichen Lesebändchen. Der Schutzumschlag ist ein beeindruckendes Landschaftsmotiv mit ausführlicher, aber nicht aufdringlicher Typografie. Auch der Innenteil ist textadäquat gut gesetzt. Ein Schmuckstück in allem – ein ideales Geschenk!
Henning Sußebach, Anna oder: Was von einem Leben bleibt. Die Geschichte meiner Großmutter ist im Beck Verlag unter der ISBN 978-3-406-83626-8 erschienen und zum Preis von € 23 erhätlich.
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