„Erinnern ist ein merkwürdiges Vergessen.“ Unter diesem Motto gelingt es Uwe Timm, auf fast 280 Seiten von seiner Zeit als Jugendlicher und junger Erwachsener zu erzählen.
Ab 1954 beginnt er – Jahrgang 1940 – eine Lehre als Kürschner im bekannten Mode- und Pelzhaus Levermann in Hamburg. Fast der gesamte erste Teil des Buches ist eine Antwort auf die Frage nach den wichtigsten Grundinhalten dieses Handwerks und dessen Entwicklung. Wir tauchen tief ein in die Welt der Nähwerkstatt mit Meistern, Lehrlingen und Näherinnen, in die Hierarchien nach Können und Vermögen dieser Kunst der Pelzverarbeitung.
Welchen Platz nimmt Uwe Timm dabei ein? Er wird von seinem Umfeld als Träumer bezeichnet. Dabei entsprechen seine Fähigkeiten durchaus der Norm. Aber dass er liest, dass er Versuche unternimmt, selber zu schreiben, muss er verheimlichen. Und Timm liest viel: Er startet mit der Schatzinsel von Louis Stevenson, verschlingt den Fänger im Roggen von Jerome D. Salinger, versenkt sich in eine Abenteurerbiografie von Roald Amundsen, dem Südpolarforscher.
Auch nimmt Timm genau Notiz von seiner Umwelt: der politischen der Adenauerzeit, die sich der Aufarbeitung der Nazizeit in vielem verweigert, der musikalischen – er hört mit großen Ohren Jazz, und Swing ist dabei nur der Start – und nicht zuletzt der menschlichen: Scheu und schüchtern nähert er sich den Frauen, macht erste sexuelle Erfahrungen, hat den ersten großen Liebeskummer.
Jäh endet die Zeit der Lehre mit dem Tod des Vaters 1958. Der zweite Teil des Buches dreht sich darum, wie die ganze Familie versucht, den ererbten Schuldenberg gemeinschaftlich abzuarbeiten. Kürschnern geht es in dieser Zeit eigentlich schlecht, denn der Import von Billigfellen aus Griechenland und der zunehmende Protest von Tierschützern treibt viele Pelzgeschäfte in den Ruin. Timm gelingt es trotzdem, die Firma vor der Insolvenz zu bewahren und sie dann sogar noch zu verkaufen.
Längst hat er sich anders orientiert. Er will sein Abitur am BS-Kolleg nachholen, einer Eliteschule in Braunschweig, um endlich schreiben zu können. Eine neue Phase in Timms Leben beginnt mit dem dortigen Unterricht, mit dem strukturierten Lesen. In kleinen Ausblicken auf die Zukunft wird deutlich, wie eng das dort Erlebte mit dem später entstandenen Œuvre des Autors verwoben ist. Denn in jener Zeit wird Timm immer deutlicher, was Sprache und Benennung bedeuten.
Das Buch endet mit der Fahrt von Hamburg zur Schule Braunschweig. Gefahren wird er von einer unangenehmen Person, die er allerdings – auf Anraten seines Anwalts – anonymisiert hat.
Dies ist eine Lektüre für alle, die Erinnerungen mit Zwischentönen lieben, mit Genauigkeit und Empathie für die beschriebenen Figuren. Und natürlich ist es auch ein Sprachkunstwerk, ein Vergangenheitszeugnis und eine Verbeugung vor der Literatur überhaupt.
Das Buch ist als gebundene Ausgabe im Verlag Kiepenheuer und Witsch unter der ISBN 978-3-462-00549-3 zum Preis von 25 Euro erhältlich.
Kommentar schreiben