1987 ist dieser Roman auf Estnisch erschienen: 2021 endlich auch auf Deutsch. Es geht um Bernhard Schmidt, einen mehr als eigenwilligen Tüftler, Erfinder und Optiker, der – 1879 auf der Insel Naissar bei Tallinn geboren – lange Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet hat und 1935 in Hamburg gestorben ist.
Im Vorwort beschreibt Kross seine Vorgehensweise, die sich zum einen an den biografischen Fakten von Schmidts Leben orientiert. Zum anderen lässt er seinen Protagonisten aus einer subjektiven Ich-Perspektive berichten. Ebene drei ist die Entstehungsgeschichte dieser Romanbiografie, dabei vor allem die Interviews, die Kross mit Personen geführt hat, die für Bernhard Schmidt wichtig waren.
Schmidts Leben ist in vielem außergewöhnlich. In seiner Jugend verliert er durch Experimente mit Schießpulver seine rechte Hand. Das hindert ihn aber nicht daran, mit links optische Linsen und Spiegel mit ungewöhnlicher Präzision herzustellen. Schmidt wird im Laufe seines Lebens immer mehr zum gefragten Astro-Optiker seiner Zeit. Aber er verfolgt auch Ziele, wie das titelgebende „Gegenwindschiff“ zu bauen, die physikalisch vollkommen unsinnig sind.
Schmidt ist und bleibt dabei Einzelgänger und Außenseiter, auch an seinem neuen Arbeitsplatz, der Sternwarte in Hamburg-Bergedorf, an der er ab 1926 als freier Mitarbeiter wirkt. Sein Neffe, der Kross in einem langen Interview auch über die Legenden um Schmidt herum berichtet, dessen Geliebte Johanna sowie Mitarbeiter der Sternwarte schildern einen Menschen, den man nicht unbedingt sympathisch finden muss. Und der wie manches andere Genie manisch seine Ideen verfolgt und allein für die Arbeit lebt.
Sorgfältig schildert der Verfasser das Umfeld auf der estnischen Insel Naissaar, die spezielle Familiensituation Schmidts, den früher Verlust des Vaters, die erneute Heirat der Mutter. Ihr Sohn aber akzeptiert den neuen Stiefvater nicht. Hier wie in den nachfolgenden Beschreibungen der Lebenswelt Schmidts in Hamburg, gerade zur Zeit des Nationalsozialismus, gelingt es dem Autor, über die bekannten Fakten hinauszugehen. Das eigentlich Wesentliche dieser schrecklichen Epoche wird in eindrücklichen Symbolen sichtbar.
Jaan Kross präsentiert uns einen ungewöhnlichen Menschen und seine Zeit. Es ist schwer, sich dem Sog dieser Mischung aus Fakten, Erdachtem und dem Spiel des Erzählers mit den verschiedenen Ebenen zu entziehen. Warum auch? Auf über vierhundert Seiten erwartet die Lesenden ein ganz besonderes Vergnügen.
Jaan Kross, Das Gegenwindschiff ist unter der EAN 978 3 95510 254 8 im Osburg Verlag erschienen und kostet 21 Euro. Ein ganz großes Lob an die beiden Übersetzer: Maximilian Murrman und Cornelius Hasselblatt haben dieses Buch elegant in Deutsche übersetzt. Letzterer bietet uns obendrein ein Nachwort, das verdeutlicht, wo das „Gegenwindschiff“ im Œuvre von Jaan Kross zu verorten ist und wie wir es aus den Zeitläuften heraus interpretieren können.
Kommentar schreiben