„Und draußen ist die Welt. Keine Frage. Die Welt, in der wir leben. Und die nun schwankt und zittert, und wir merken es nicht einmal. Wenn denn auch, denn sie ist ja draußen, diese Welt.“ Vielleicht ist dieses Zitat auf Seite 103 ein Motto für das neue Buch, das Heiner Egge uns im Jahr 2023 geschenkt hat? In zwölf Geschichten rund um das Meer macht er uns mit seinen Bildern bekannt und sprengt in fast allen unsere Vorstellungen, die wir an eine „logisch“ erzählte Geschichte stellen.
Wenn man den Surrealismus als eine Kunstströmung des 20. Jahrhunderts bezeichnet, die auf dem Bestreben basiert, sich gegen die traditionellen Normen zu stellen und offen für Unwirkliches und Übernatürliches zu sein, so zielen die Erzählungen sicher in diese Richtung. Ausgehend von einer gewöhnlichen Umgebung werden den Aktanten Handlungsweisen zugeordnet, die den Verlauf der Geschichte(n) auf den Kopf stellen.
Bereits die erste Erzählung liefert ein Beispiel dafür. Eine Vogelwartin, Tine Siemsen, bewacht als Tagebuchschreiberin eine Insel in der Nordsee, „Blauort“ genannt, eine fiktive Insel, die wie Trischen – dieses kleine, halbmondförmige Stück Land im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, gerade eben noch im Einzugsgebiet der Elbmündung – nur von einem für die Vögel zuständigen Menschen bewohnt wird. Aber dann plündern Fremde den Eierbestand der Insel: Sind es Flüchtlinge? Ein Walbulle strandet und explodiert. Und zuletzt wechseln der auch erzählende Versorger und die Vogelwartin die Positionen.
In „Windsbraut“ entführt der Wind einen geliebten Menschen. In der „Katze von Kampen“ setzt Egge der Kneipenwirtin und Kabarettistin Valeska Gert, die 1978 in Kampen auf Sylt starb, ein eigenwilliges Denkmal. In der „schwarzen Gret“ spielt er mit dem Märchen von Ludwig Bechstein. Und Horst Janssen, genialer Zeichner Radierer und Grafiker, taucht hier auf und unterhält sich mit dem Erzähler.
In „Sturmflutkino“ holt uns alle die Gegenwart ein, denn es geht um den Klimawandel, um ein eigentümliches Kino und eine Liebe, die wortmächtig angedeutet wird. Die vielleicht schönste Geschichte erzählt Egge uns am Schluss: Die Geschichte der Kadettin Marie Kramer, die von Bord des Schiffes Aurora verschwindet, und eines Bootsmanns, der sie liebt.
Außerdem erfahren wir etwas über den „Kraken“, das Schiff des deutschen Schriftstellers, Barden und Reformpädagogen Martin Luserke, über Kasia, der der Erzähler am „Balischen Meer“ begegnet. Und über estnischen Rap ... allerdings braucht es ein Smartphone, um an diesem meer-schichtigen Vergnügen teilzunehmen.
Jede Geschichte ist eine Überraschung – eine, die zum Teil auch verkraftet werden muss. Egge mutet sie uns zu, in dem Vertrauen, dass wir dann wohl unterscheiden, was Welt ist und was Poesie. Aber was, wenn sich beides verschränkt? Wo bleibt dann der Erzähler? Wo bleiben wir?
Heiner Egges neues Buch ist im Verlag Boyens erschienen, der es liebevoll gestaltet hat. Das schöne Kleinformat hat 159 Seiten, lädt zum Lesen (und Wiederlesen!) ein und kostet 20 Euro.
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