Die Siebzigerjahre. Zeit der Ernüchterung

 

Die Siebzigerjahre. Zeit der Ernüchterung

 

Ausstellung im Warleberger Hof in Kiel

 

Im vorigen Herbst las ich in der Wochenendausgabe des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags sh:z einen Tipp für den Besuch einer Ausstellung im Warleberger Hof in der Dänischen Straße. Ihr Titel: „Die 70er Jahre – Zeit der Ernüchterung“. Schon früher gab es dort Sonderausstellungen mit Kielbezug, zum Beispiel im Jahr 2018 die Schau „Fotoporträt – Kieler Stadtteile. Von der Nachkriegszeit bis in die 80er Jahre“.

 

Da mir im Herbst 2020 Corona einen Strich durch die Rechnung machte, war erst im Mai 2021 ein Besuch unter Voranmeldung möglich. Anderthalb Stunden hatte ich Zeit, einen Blick auf die Exponate und weitere Medien zu werfen. Um es vorwegzunehmen: Es hat sich unbedingt gelohnt! Warum? Sicherlich wegen des museal-umfassenden Blicks auf die gesellschaftlichen, politischen und sozialen Fragen jener Zeit. Die 70er-Jahre waren ein Jahrzehnt voller Gegensätze und Paradigmenwechsel.

 

Zum einen wirkt die Studentenrevolte wie ein Katalysator des gesellschaftlichen Fortschritts, den Willy Brandt mit den Worten „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ formuliert hatte. Das aktive Wahlalter sinkt von 21 auf 18 Jahre. Zum anderen löst sich bereits 1970 der Sozialistische Deutsche Studentenbund auf. Gleichzeitig radikalisiert sich der Protest gegen die „BRD“ zunehmend: Die Rote Armee Fraktion ermordet im Jahre 1977 den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und den Generalbundesanwalt Siegfried Buback.

 

1971 bekennen sich über 360 Frauen im „Stern“ dazu, abgetrieben zu haben. Ab 1974 gilt der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der sogenannten Fristenlösung als nicht mehr strafbar. 1976 kommt es zu einer Lockerung des Scheidungsrechts und damit zum Ende der sogenannten Hausfrauenehe. 1973 und 1978 wird die Abhängigkeit der Welt vom Erdöl deutlich. Die Preise steigen, Energiesparen wird zum Gebot der Stunde. 1972 feiert der Sport die Olympischen Spiele in München und Schilksee. Aber die Spiele stehen unter einem schlechten Stern: In München wird von radikalen Palästinensern ein Attentat auf die israelische Mannschaft verübt. 1979 werden die „Grünen“ gegründet zur Verstetigung des Protests gegen die Atomkraft, für einen anderen Blick auf die Natur und eine neue Umweltpolitik.

 

All das wird – soweit möglich – durch Fotografien aus Kiel, meistens aus dem Archiv von Friedrich Magnussen, dem letzten hauptamtlichen Fotografen der Kieler Nachrichten, belegt. Andere Medien wie Plakate, Handzettel oder Sticker verweisen gekonnt als Quellen der Zeit auf bestimmte Ereignisse.

 

Eigenartig, an welche Ereignisse ich mich selbst besonders oder weniger gut erinnern kann! Die Gründung der „Grünen“ vermutete ich ebenso in den Achtzigerjahren wie den ersten autofreien Sonntag von 1973 im Gefolge der Erdölkrise. Den Rücktritt Willy Brandts im Jahr 1974 dagegen, wie auch den genannten „Stern“-Artikel von 1971 und die Ermordung von Schleyer und Buback, konnte ich zeitlich richtig einordnen.

 

Die mediale Gestaltung der Ausstellung, die Aufteilung der Themen auf die Räumlichkeiten, die Möglichkeit, durch Kommentare eigene Erinnerungen einzubringen, sowie die Verweise auf die lokale Berichterstattung in den Fotografien der Zeit haben mir als ehemaligem Kieler besonders eingeleuchtet. So habe ich einige Zeit gebraucht, um mich nach dem Besuch der Ausstellung und der Verabschiedung vom freundlichen Museumspersonal auf der Dänischen Straße wieder an die „Normalität 2021“ zu gewöhnen.

 

So empfehle ich allen, die sich für diese Zeit und eine meisterliche, nicht nur lokal relevante Aufarbeitung interessieren, einen Besuch im Warleberger Hof. Allerdings sollte man sich informieren, welche Corona-Regeln für den geplanten Aufenthalt jeweils gelten. Danach sollte man unbedingt den kleinen, handlichen Führer erstehen, der vor Ort für lediglich 5 Euro angeboten wird. Dieser Führer von Sonja Kinzler bietet nochmal die Quintessenz der Ausstellung in Wort und Bild. Er erspart lästiges Fotografieren bei durchaus schwierigen, weil exponatschonenden Lichtverhältnissen.

 

Bis zum 30. Mai 2021 kann diese Ausstellung noch besucht werden. Kaum zu glauben: Der Eintritt ist frei!

 

Sonja Kinzler, „Die 70er Jahre Zeit der Ernüchterung“ ist im Ludwig Verlag in Kiel erschienen und trägt die ISBN 978-3-86935-388-3.

 

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