Le Carré- Taubentunnel

 

John le Carré – Der Taubentunnel – Geschichten aus meinem Leben

 

Wer schafft es schon, als junger Schriftsteller mit seinem dritten Roman Weltruhm zu erlangen? John le Carré, eigentlich David John Moore Cornwell, hat das mit dem „Spion, der aus der Kälte kam“ erreicht. Und das Geld, das er für diesen in lediglich fünf Wochen geschriebenen Roman erhielt, ermöglichte es ihm, seine Arbeit beim englischen Auslandsgeheimdienst MI6 aufzugeben und freier Schriftsteller zu werden. Diese und ganz viele andere „Geschichten aus (s)einem Leben“ erzählt uns le Carré im „Taubentunnel“, der vier Jahre vor seinem Tod erschien; fürwahr eine brillante Mischung über alle Schreib-Phasen dieses vielseitigen Schriftstellers.

 

Schon früh hatte le Carré in den Krimis um Georg Smiley, einem Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes „Circus“, deutlich gemacht, dass er vom Schwarz-Weiß-Denken des Kalten Krieges nichts hielt. Dem Westen kam nicht per se ein moralischer Vorteil gegenüber dem Osten zu, sondern der Westen bewies im Gegenteil mit und in seiner Spionagearbeit und der Wahl seiner Mittel dabei, dass er genauso menschenverachtend handelte wie der Osten, wenn er seine Interesse gefährdet sah.

 

Dass le Carré sich trotz dieser Einstellung immer an den Ehrencodex eines ehemaligen Spions hielt, versteht sich. Was seinen kritischen Blick auf den englischen Geheimdienst aber nicht relativierte, gerade im Fall des Doppelagenten Kim Philby, der der UdSSR über Jahrzehnte Geheimnisse der Briten und Amerikaner verriet. Le Carré verarbeitet diese Affäre in seinem mit Alec Guiness genial verfilmten Roman „Dame, König, As, Spion“. Wobei er die historische Vorlage frei verwendete und sich nicht zum Sklaven der Fakten machte. Denn überhaupt: Was sind Fakten in einem Roman, was wird aus ihnen, wenn der Autor seine eigene „höhere“ Wirklichkeit beschreibt und die Figuren innerhalb ihrer eigenen Gesetzlichkeit autonom handeln, was ihnen le Carré ausdrücklich zugesteht.

 

Dieser Autor ist – und das kann man in jeder autobiografischen Geschichte erkennen – der geborene Erzähler. Ausdruckssicher, ausgesprochen humorbegabt und durchaus detailverliebt, aber eben nicht detailversessen, wenn das den Erzählfluss stören würde. Le Carré ist Zeit seines Lebens und zum Teil unter Lebensgefahr gereist, um vor Ort zu erkunden, was „die Welt“ für den nächsten Roman „im Innersten zusammenhält“. Und findet immer wieder neben den geografischen und politischen Gegebenheiten Personen, die – natürlich verfremdet und anders benannt – eine Hauptrolle im jeweiligen fiktionalen Gefüge spielen. Diese Personen fallen ihm sozusagen in den Schoß, wie er selbst sagt, und müssen dann „nur“ noch den ihnen zustehenden Platz in der Geschichte finden.

 

Le Carré beschränkt sich dabei nicht auf den europäischen Raum. Er fährt nach Afrika, um für den „ewigen Gärtner“ zu recherchieren. Nach Palästina und Nordafrika, um Material für die „Libelle“ zu erhalten. Nach Russland, um sich über Glasnost und Perestroika zu informieren. Und lässt sich überhaupt in allem nicht den Kompass der Menschlichkeit verbiegen, nimmt also vehement Stellung für den unschuldig in Guantanamo inhaftierten und gequälten Murat Kurnaz und damit gegen die Ungerechtigkeit der USA im Kampf gegen den Islamismus. An anderer Stelle kritisiert er die Politik der mächtigen Pharmakonzerne in Afrika.

 

Le Carrés Sicht auf zu Deutschland ist ambivalent. Er ist zwar Liebhaber deutscher Literatur und Kulturtradition, hat aber dennoch ein zweigeteiltes Verhältnis zur west- und ostdeutschen Nachkriegspolitik, die sich im Verdrängen der Geschehnisse während der NS-Diktatur übte und in vielem unreflektiert, fast reflexhaft der jeweilige Führungsmacht das Wort redete. Da darf ein kritisches Wort über die „Organisation Gehlen“ und deren Angreifbarkeit nicht fehlen. Fast beiläufig findet sich eine hochinteressante Biografie des Sozialdemokraten Erler, der für ein anderes Deutschland stand.

 

Eine Sonderstellung im Leben le Carrés nimmt sein Vater Ronnie ein. Als Hochstapler, Phantast, Versicherungsbetrüger und mehrfacher Knastbruder prägt er die Jugend des Autors mit seinen wohl immer spannenden, aber selten kindgerechten Aktionen. Ein Elternhaus hat der Autor wohl eigentlich kaum kennengelernt, denn seine Mutter verließ die Familie, als er fünf Jahre alt war. Und trotzdem bezeichnet le Carré seine Jugend als reich. Wohl eine der vielen durchaus selbstironischen Wendungen, die der Autor gekonnt an den Leser bringt. Dennoch ist le Carré nicht eitel: Oft genug beschreibt er auch eigene Pannen oder Pleiten bzw. zahlreiche Unzulänglichkeiten. Wie kaum ein Zweiter erzählt er das so gekonnt, dass wir uns ein lautes Lachen nicht verkneifen können.

 

Warum sollte man auch den Rest dieses Buches lesen? Weil le Carré einen unbestechlichen, weltumspannenden Blick auf die letzten vier oder fünf Jahrzehnte hat, weil er einfühlsam wie kaum ein anderer porträtieren kann, weil er nie das Außergewöhnliche in einer fast banalen Situation vergisst und weil er unglaublich dicht und trotzdem unterhaltsam über alles schreiben kann. Die alte Unterscheidung in U- und E-Literatur hebt er damit auf angenehme Art auf.

 

Es ist traurig, dass le Carré am 12. Dezember 2020 in Cornwall gestorben ist. Aber Vorsicht: Falls der „Taubentunnel“ Sie zum Le-Carré-Leser hat werden lassen, dann werden Sie sich von den Büchern dieses Schriftstellers so bald nicht trennen können. Diese Lektüre macht auf eine schöne Art süchtig!

 

Der „Taubentunnel“ ist als Ullstein-Taschenbuch unter der EAN 978-3-548-28985-4 zum Preis von 12 Euro erschienen.

 

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