Sie sind im Norden das Gesprächsthema, die Wikinger! Die Stadt Schleswig hat sich seit 2015 ein neues Logo gegeben und nennt sich seitdem „Wikingerstadt“, die benachbarte Gemeinde Busdorf „Wikingerdorf“, und es gibt in Schleswig normalerweise in jedem Jahr „Wikingertage“, die Tausende von Besuchern anziehen. Woran liegt das, oder welches Bild haben wir von den Nordmännern, die im frühen Mittelalter Europa ihren Stempel aufdrückten? Waren sie tatsächlich die verwegenen Kerle, die von ihren Drachenschiffen aus allüberall Furcht und Verderben verbreiteten, die nichts und niemanden fürchteten und alle mehr oder weniger metabhängig waren?
Jörn Staecker und Matthias Toplak, die in diesem Band als Herausgeber fungieren, haben ein Buch konzipiert, das gründlich den heutigen Forschungsstand referiert. Dazu haben sie Kollegen angeschrieben und um Beiträge für das Buchprojekt „Wikinger“ gebeten. Es ist ihnen gelungen, Texte zu sammeln, die zwar exakt das jeweilige Thema ausforschen, aber ausgesprochen lesbar daherkommen.
Ein Beispiel gefällig? Ich nehme dafür das Kapitel 2.3, „Das Danewerk. Eine Grenzbefestigung der Wikinger?“, verfasst von Astrid Tummuscheit und Claus von Carnap-Bornheim. Wir erfahren, dass dieser Grenzwall erstmals in den Reichsannalen für das Jahr 808 erwähnt wurde. Der „dänische König Godfred fuhr“ mit seinem Heer „nach Haithabu und beschloss, die Grenze seines Reiches nach Sachsen zu mit einem Wall zu schirmen“. Damit wäre, wenn man dieser Quelle glaubt, die Entstehung des Danewerks mehr oder minder exakt datiert.
Aber halt: So einfach ist es nicht. Zur jener Zeit war Schleswig-Holstein ein Viervölkerstaat; das Danewerk diente vor allem zum Schutz gegen die Sachsen im Süden und gegen die Franken, die unter Karl dem Großen versuchten, in Holstein Fuß zu fassen. Allerdings finden sich innerhalb des dreißig Kilometer langen, äußerst geschickt angelegten Bauwerks auch Bestandteile, die in die Völkerwanderungszeit, also etwa im vierten bzw. fünften Jahrhundert entstanden sind. Dieser älteste Teil des Danewerks, der ein Teil des etwa 5,4 Kilometer langen Hauptwalls ausmacht, bestand aus einem ungefähr zwei Meter hohen simplen Erdwall.
Auf diesen schichtete man später eine Konstruktion sorgfältig ausgestochener Heidesoden, den sogenannten Sodenwall, der auf den etwa das Jahr 500 n. Chr. datiert wird. Da wir aus dieser Zeit keine schriftlichen Quellen heranziehen können, ist es nicht möglich, Genaueres über die Erbauer, den Anlass und die Umstände der Gründung herauszufinden. Eines aber ist sicher: Der Wall schirmte das Territorium nach Süden ab. Es spricht manches dafür, dass dieser Ur-Wall mit innergermanischen Auseinandersetzungen in Südskandinavien zusammenhängt. Dafür spricht auch auch die Opferung von Waffen und Ausrüstung, die in Opfermooren wie Thorsberg oder Nydam gefunden wurden. Später verlängerte man den Hauptwall um den Krummwall, den man mit „um 700“ datieren kann.
Erstaunlicherweise verfiel das Danewerk danach, und erst im achten Jahrhundert entstehen in kurzer Folge mehrere Ausbauphasen, die den Wall in seiner Grundsubstanz veränderten. Statt der erosionsanfälligen Erd- und Sodenwallanlagen entstehen jetzt Palisaden aus Eichenholz, die im achten Jahrhundert durch Feldstein verbessert werden – und das bis in eine Höhe von drei Metern! Dieses Bauwerk erforderte eine für die Zeit außergewöhnliche Logistik und einen Personalaufwand, der auf eine frühe Form von Königsherrschaft oder deren Vorform hinweist. Ob aber tatsächlich der erwähnte Godfred diese Erdarbeiten veranlasst hat, ist nicht unmittelbar zu beleben.
Das Danewerk rückt erst im zehnten Jahrhundert wieder in den Fokus der schriftlichen Überlieferung. Denn um 960 – und damit in der Regierungszeit Harald Blauzahns – erhielt das mittlerweile zur frühmittelalterlichen Stadt entwickelte Haithabu seine charakteristische Halbkreisumwallung. Allerdings gelang es Otto II. trotzdem für kurze Zeit Haithabu zu erobern. Darüber hinaus zeigen diese Auseinandersetzung und die Erweiterung des Danewerks um den Krummwall, dass nicht allein Haithabu, sondern auch Hollingstedt zum wichtigen Kraftzentrum der Zeit aufgestiegen war, das es ebenfalls zu schützen galt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hat wurde das Danewerk dann weiterentwickelt bzw. verändert, was die Autoren anschaulich beschreiben. Es wird deutlich, dass das Bild, das wir uns von diesem Festungswall und seiner Geschichte gemacht haben, dringend revisionsbedürftig ist.
Und diese Aussage gilt für das Buch insgesamt. Ob es um die Quellen geht, aus denen wir bisher unbekümmert abgeleitet haben, ob das Geschlechterverhältnis Mann/Frau besprochen wird, ob es um Handel und Expansion geht, um die Ausbreitung der Wikinger insgesamt oder um Fragen von Religion und Mythologie: Stets werden kritische Fragen zu bereits gegebenen Antworten formuliert. Dazu werden neue Thesen unaufdringlich und aufschlussreich mitgeliefert.
Mich hat das Buch begeistert. Es ist nicht nur einfach und verständlich geschrieben sowie kenntnisreich bebildert, sondern ermöglicht als wissenschaftliches Buch jederzeit einen vertiefenden Einblick in die Welt der Nordmänner. Den Autoren und dem Verlag Propyläen ist für ein tolles Buch zu danken, das mit 32 Euro günstig kalkuliert und unter der ISBN 978-3-549-07648-4 zu bestellen ist.
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