Südtirol in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Eine Familie lebt dort in einem kleinen Dorf, aber sie gehört nicht zur Dorfgemeinschaft und wird daher nur „die Bagage“ genannt, als Synonym für „Pack“ und „Gesindel“. Umso enger hält sie zusammen, wohnt im letzten Haus im Tal, das ohne Wasser und Strom auskommt. Josef und Maria Moosbrugger, die Eltern, stehen für unterschiedliche Welten: Josef lebt in seiner eigenen, undurchschaubaren Handels- und Kommunikationswelt, ein auch körperlich starker Mann, mit dem sich niemand gern persönlich anlegt. Maria ist eine eigenwillige Schönheit, deren Ruf sich in der ganzen Region, weit über die Dorfgrenzen hinweg, ausgebreitet hat.
Maria und Josef haben Kinder, die ganz verschieden sind: Heinrich liebt Tiere, brennt für die ihn umgebende Landwirtschaft und Natur; Katharina wird schon früh viel Verantwortung für die Geschwister aufgebürdet; Lorenz ist schon in der Schule eine Genie und (Lebens-)Künstler, der schon früh malt und die Familie in Notzeiten raffiniert vor dem Elend bewahrt; Walter wird später allen Frauen in der Umgebung den Kopf verdrehen. Grete schließlich, die Mutter der Erzählerin, ist das Bindeglied in diesem Roman.
1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ändert sich auch für „die Bagage“ alles, denn Josef wird zur Armee eingezogen, die Familie wird unter den Schutz des Orts-Bürgermeisters gestellt, was dieser allerdings zu seinem Vorteil ausnutzen möchte. Er bedrängt Marie mehrfach sexuell; andererseits liefert er für die Bagage Lebensmittel, um sein unlauteres Anliegen zu fördern.
Mitten im Krieg taucht Georg auf, ein Deutscher aus Hannover, ein schöner Mann, der Marie den Hof macht und sich auch mit den Kindern bei einem Besuch gut versteht. Marie verliebt sich in ihn; ist Grete, die später geboren wird, von ihm? Der Dorfgeistliche nimmt die sich um Georg und Marie rankenden Gerüchte zum Anlass, um „die Bagage“ quasi zu exkommunizieren: Er montiert das Kreuz am Hauseingang der Familie einfach ab und wettert von der Kanzel gegen Marie.
1918, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, kommt Josef nach Hause und versucht, seine alte Rolle wieder einzunehmen. Er hört auf den Dorfklatsch und ignoriert Grete, die er als Bastard ansieht. Nie in seinem Leben wird er je ein Wort an dieses Kind richten. Aber nach ihr bekommt Marie noch zwei weitere Kinder von Josef. Bald danach wird sie krank und stirbt. Auch Josef wird nicht alt, und die Kinder müssen sehen, wie sie in dieser unerbittlichen Welt zurechtkommen.
Die Buchautorin ist Teil der Geschichte um die Moosbruggers, denn auch sie bringt Teile ihres eigenen Lebens in die Novelle mit ein. Als vorsichtig tastende Erzählerin versucht sie in vielen Gesprächen mit Katharina und den anderen herauszubekommen, was eigentlich damals passiert ist. Aber es bleibt für uns Leser ungewiss, ob es denn überhaupt so etwas wie eine „Familienwahrheit“ gibt, und auch, ob und wie man diese erzählen kann.
Monika Helfer ist ein meisterlicher Roman gelungen, der mich in den Bann geschlagen hat. Sie zeichnet für uns einen ganz eigenen Kosmos, Produkt einer schonungslosen autobiografischen Annäherung und eines Geschehens, das uns alle zu Liebhabern ihrer Figuren macht, ganz egal, wo und wie wir beheimatet sind. So vertraut kann Familiengeschichte werden, wenn sie erzählt wird wie auf diesen 159 Seiten.
Das Buch ist unter der EAN 978 3 446 26562 2 zum Preis von 19 Euro erschienen. Wie wenig der prominente Hanser Verlag an den Erfolg dieses wunderbaren Buchs geglaubt hat, kann man daran ersehen, dass die hohe Nachfrage ihn dazu gebracht hat, noch im Erscheinungsjahr 2020 sage und schreibe zwölf Auflagen zu drucken!
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