Bruno Preisendörfer – Als die Musik in Deutschland spielte
Wie schreibt man ein Sachbuch über das Kultur-Zeitalter des Barock in Deutschland? Ein Blick auf die Kartografie dieser Zeit verrät, wie uneinheitlich, wie zersplittert dieses Territorium ist, stark mitgenommen durch den Dreißigjährigen Krieg. Preisendörfer wendet einen Kunstgriff an, der sich im Untertitel ankündigt: Er macht die Biografie dreier Musiker dieser Zeit zum Gerüst seiner Darstellung. Und so sind die Lebensläufe von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann beides, Biografien an sich und in ihrer Art natürlich vollkommen unterschiedlich, aber eben auch Bausteine einer kulturgeschichtlichen Darstellung, deren Radius nicht allein auf die Musik beschränkt.
Im „Präludium“ erfahren wir Grundsätzliches über die drei erwähnten Musiker. Köstliche Anekdoten zeigen die Vielgestaltigkeit ihrer Musik und die Bandbreite ihres Könnens: Telemann in seiner Kantate auf einen kunstsinnigen Kanarienvogel, den die Katze (trotzdem) frisst, Händel beim Verfassen des berühmten „Dettinger Te Deum“, einer Triumphmusik zu einer eher ausgeglichenen Schlacht, Bach bei der Komposition der fast überzeitlich wirkenden „Chaconne“ für Solovioline.
Die ersten beiden Kapitel berichten über den wesentlichen politischen Stand Europas zu jener Zeit und vor allem die Entwicklung in den deutschen Ländern. Natürlich sind die Folgen des großen Krieges zwischen 1618 bis 1648 ein Schwerpunkt der Darstellung. Und es geht um die großen Fürsten: Friedrich von Brandenburg, Ulrich von Wolfenbüttel, Herzog Carl von Württemberg, August den Starken, Friedrich Wilhelm, den preußischen Soldatenkönig, und seinen Sohn Friedrich den Zweiten, den Philosophenkönig, sowie um Clemens August, Erzbischof von Köln. All diese Namen sind verbunden mit der Ausbildung des frühneuzeitlichen Territorialstaates.
Anschließend geht Preisendörfer der Frage nach, wie man in den Städten jener Zeit lebte. Wir begleiten berühmte Musiker auf ihren Wegen in die damaligen Metropolen: Vivaldi in Wien, Händel in London, Telemann bei seiner Reise nach Paris und am Arbeitsort in Hamburg, Quantz in Dresden, die Gebrüder Graun in Berlin und Bach in Leipzig. Gerne wurde in der „galanten Zeit“ an den Fürstenhöfen das Landleben nachgespielt, wie im vierten Kapitel des Buches geschildert – sowie auch, was diese Imitation mit der Realität auf dem Lande zu tun hatte. Schön, wenn man andererseits als Städter einen Garten sein eigen nannte, wie zum Beispiel die Familie Bose in Leipzig, unmittelbare Nachbarn der Bachs.
Man nennt die Zeit des Barock auch gern das Zeitalter der Aufklärung; daher widmet sich ein Abschnitt den damaligen Fortschritten. Erstmals wird die Folter als Beweismittel im Prozess für sinnlos erklärt, Leibnitz sammelt das Wissen der Zeit, Wolff macht sich „vernünftige Gedanken“ um Gott, Zedler verlegt ein bahnbrechendes Lexikon, Gottsched verfasst eine moderne Poetik des Dramas, Süßmilch erarbeitet die Grundlagen der Statistik, Haller seziert Leichen, und endlich dürfen Frau eine akademische Ausbildung beginnen und promovieren, wie beispielsweise Dorothea Erxleben.
Ein besonders wichtiges Kapitel ist das sechste, denn hier geht es um die Frage, wie Macht, Religion und Musik zusammenhängen. Was wissen die Menschen damals über Akustik, über die Beschaffenheit unseres Hörapparats? Was bedeuten „Pauken und Trompeten“? Wie gestaltet sich die Hierarchie der Musizierenden, welche Rolle spielten Orgel und Organist im Gottesdienst? Wer saß wo im Gottesdienst und warum? Was genau bedeutete „Kirchenbuße“, was „Schafottpredigt“? In welchem Verhältnis stehen diese Sonderformen des Gottesdienstes zu den Passionen der Zeit? Außerdem macht uns Preisendörfer mit dem Phänomen der „inneren Frömmigkeit“ bekannt, indem er Franckes Gottesstaat in Halle beschreibt, die Herrnhuter vorstellt und die Grundlinien des Pietismus nachzeichnet.
Aufschlussreich sind die Beschreibungen der barocken Schönheitsideale und die Art, wie letzere sich wandeln, bei Frauen und Männern, bei den verschiedenen Bevölkerungsschichten. Existenzielle Themenbereich schließen sich an: wie das Familienleben aussah, wie Kinder zur Welt gebracht und erzogen wurden, wie man gekocht und gewirtschaftet hat. In den folgenden Kapiteln werden die weltlichen Freuden und das irdische Leid beleuchtet. Es um Liebe, um Sexualität und Tanz, um die Vorlieben der Musiker wie die Blumenliebe Telemanns und der Appetit Händels, um das Studentenleben, um Volksbelustigungen und Bänkelsänger. Die Medizin der Zeit konnte leidenden Menschen allerdings trotz vieler Heilsversprechen – zum Beispiel eines Doktor Eisenbarth – kaum helfen. Wem ein Zahn gezogen wurde, der konnte froh sein, wenn er überlebte. Bach und Händel ließen ihren Grauen Star zeitgemäß „stechen“, verlieren aber dadurch erst recht den Rest ihrer Sehkraft.
Ein „Finale“ überschriebenes Schlusskapitel schildert uns Tod und Sterben der vertrauten Musiker und ordnet dies in die Zeit ein. Als Beispiel sei ein Sonett von Telemann über den gerade verstorbenen Johann Sebastian Bach angeführt, das in einer Dresdner Zeitung im Januar 1751 der Stadt und der Welt deutlich machen möchte, was sie mit Bachs Tod verliert.
Schade, dass dieses Buch nach etwa vierhundert Seiten aufhört. Preisendörfer bringt seiner Leserschaft die Zeit des Barock so nahe, wie das in einem Buch überhaupt möglich ist. Die Lektüre lohnt sich also unbedingt. Der Titel ist im Galiani Verlag erschienen und unter der ISBN 978-3-86971-190-4 zum Preis von 25 Euro erhältlich.
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