Charles Lewinsky - Der Stotterer

Dies ist ein Briefroman, der es in sich hat. Denn das erzählende, bis zum Ende namenlose Ich sitzt in einer Justizvollzugsanstalt, die namentlich ebenfalls nicht genannt wird. Dort und in unserer Zeit schreibt er Briefe an Personen, die hier Macht und/oder Einfluss haben und seine Situation verändern bzw. verbessern könn(t)en. An den Anstaltsgeistlichen zum Beispiel wendet er sich, weil er gerne in die Gefängnisbibliothek versetzt werden möchte; zur der Zeit muss er Autoschilder stanzen, und das den lieben langen Tag.

 

Aus den Briefen an den Padre erfahren wir einiges aus seinem Leben: eine Kindheit in einer engen, bigotten Familie, der Vater ein gesichtloser Angestellter, die Mutter der Prototyp einer meinungslosen Ehefrau. Die christliche Gemeinde, nicht minder eng, fundamentalistisch bibeltreu und abhängig vom Gemeindelältesten Bachofen. Der einzige Rückhalt ist die Schwester, die unter ungeklärten Umständen stirbt.

 

Früh bekommt er zu spüren, wie es ist, ein Stotterer zu sein. Prügel zu Hause und Hänseleien in der Schule bestimmen seinen Lebensweg. Er wehrt sich gegen diese Form der Deklassierung durchaus rabiat. So stellt er den Klassenstärksten, der ihn wegen seiner mangelnden Größe und des Stotterns schikaniert, dadurch bloß, dass er ihn vor der gesamten Klasse bis auf die Knochen nachhaltig blamiert.

 

Nach der Schule findet er nicht in einen klassischen Beruf, sondern landet in einem Callcenter, das sich auf betrügerische Partnervermittlung und „Telefonabzocke“ spezialsiert hat. Nachdem diese Firma Konkurs gegangen ist, betätigt er sich betrügerisch, indem er den „Enkeltrick“ anwendet und seine exzellenten Sprachfertigkeiten zum Schaden älterer Frauen einsetzt. Leid tut ihm nur, dass er dabei erwischt wird.

 

Dieses Buch besteht also im Wesentlichen aus Briefen und natürlich auch aus den Antworten darauf. Der Anstaltsgeistliche zum Beispiel macht ihm Mut und versucht ihn dazu zu bewegen, an dem Preisausschreiben eines namhaften deutschen Verlages teilzunehmen. Er soll eine Geschichte schreiben, eine eigene – keine, die einem Anstalts-Zweck dient.

 

Aber nicht nur der Padre erhält Post von ihm, sondern auch andere, beispielsweise der ungekrönte König der Anstalt. Ihm erweist er auf Druck eine Briefgefälligkeit der ganz besonderen Art, die ihm selbst eine Einzelzelle verschafft. Bedrückend, wie perfekt das alles funktioniert, wie er es immer wieder schafft, sprachlich genau das Zielführende zu schreiben und wie devot die Anstaltsleitung darauf reagiert.

 

Neben diesen Briefen führt der Ich-Erzähler Tagebuch und würzt seine Berichte mit Zitaten aus der Bibel und von Arthur Schopenhauer. Wenn wir den Aufzeichnungen Glauben schenken dürfen, bereitet er sich auf seine bald bevorstehende Entlassung vor. Sprache, ganz egal ob Lobhudelei, Zustandsbeschreibung oder treffende Analyse, ist der Dreh- und Angelpunkt in seinem Leben. Und so schreibt er, der nicht einen Satz ohne Unterbrechung sprechen kann, kleine und kleinste erfundene und autobiografische Geschichten, die er als „Fingerübungen“ bezeichnet. Und erhält dafür zum Schluss sogar die Zusage, dass ein namhafter Verlag sich um diese Texte kümmern will. Das wäre eine Vorstufe zu einer Art von Resozialisierung durch das Be-Schreiben der eigenen Geschichte.

 

Dies ist ein durchaus harter Roman: die schonungslose Sprache, mit der uns der Ich-Erzähler die Welt der JVA beschreibt und erklärt, die sprachliche Perfektion, mit der die erfundenen Geschichten uns in den Bann ziehen, oder die Spannung, die sich aufbaut, als kurz vor Schluss des Buches die große Abrechnung mit Bachofen und seinem früheren Leben stattfindet. Das alles ist faszinierend und beklemmend erzählt.

 

Lewinsky ist ein sehr unterhaltsamer und beeindruckend „oszillierender“ Roman gelungen, dem ich viele Leser wünsche. Das Buch ist unter der EAN 978 3 257 07067 5 im Diogenes Verlag erschienen und kostet 25 Euro.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0