Nein, man braucht keinen Roman über fünfhundert Seiten, um ein Buch über die großen Dinge des Lebens wie Leben, Tod, Glück, Unglück, Familie, Liebe, Kindheit, Erfolg, Verrat, Treue und Scheitern zu schreiben. Johan Bargum macht uns in seinem schmalen Bändchen auf knapp 142 Seiten vor, wie das auch auf engstem Raum möglich ist.
Aber langsam, eins nach dem anderen. Der Ich-Erzähler Olof fragt sich zu Beginn: „Weiß man eigentlich jemals, was vor sich geht?“ Und er hat allen Grund zu dieser Frage. Auf einer kleinen Schäre in der Nähe von Helsinki, genauer in einem Ferienhaus dort, trifft sich in jenen Tagen im Nachsommer seine Familie aus einem traurigen Anlass, denn die Mutter von Olof liegt im Sterben und hat nur noch wenige Stunden oder Tage vor sich.
Olof, der Erzähler und Beobachter, macht uns auf seltsam unbeholfene, einfache und trotzdem eindrucksvolle Art und Weise mit den alten Konflikten und Wunden bekannt, die den Alltag dieser Familie dereinst bestimmt haben: mit der Rivalität zwischen Olof, dem Erstgeborenen, dem Loser, und Carl, dem erfolgsverwöhnten Bruder, der schon früh und gegen den Willen der Mutter als IT-Spezialist nach Amerika ausgewandert ist; mit der Feindschaft der Brüder zu „Onkel“ Tom, einem Arzt, der recht früh die Vaterrolle in der Familie eingenommen hatte bzw. das versuchte, nachdem der leibliche Vater gestorben war.
Aber damit nicht genug. Carl hat seine Frau Klara und seine beiden Kinder aus Amerika mitgebracht: Der jüngere Sohn, Sebastian, ist ein Wirbelwind und Drauflos, der Ältere, Sam, eher nachdenklich und wägend. Zum Glück gibt es noch eine Diakonisse, die Tom zur Betreuung der Moribunden angestellt hat und die sich lebenspraktisch und mit viel Herz auch um die Kinder kümmert.
Aber wir erfahren noch mehr. Offenbar haben sich Klara und Olof früher einmal für kurze Zeit sehr nahegestanden. Wie viel weiß Carl von dieser Beziehung, und hatte diese vielleicht sogar Folgen? Eine Hassliebe verbindet die Mutter mit Carl, denn sie konnte ihn nicht loslassen und hat daher versucht, ihn in Amerika bei seinem neuen Arbeitgeber unmöglich zu machen.
Und dann überschlagen sich die Ereignisse. Carl versucht, sich an seinem Bruder zu rächen. Kurze Zeit später stirbt die Mutter. Ein Anwalt der Familie verliest nach der Beerdigung das Testament, das in der Logik der Vergangenheit, der Gesetzmäßigkeit dieser Familie steht. Nach einem Gespräch zwischen Olof und Tom wird dieser plötzlich auf eine Probe der ganz anderen Art gestellt, muss aus dem Schatten seines Bruder heraustreten und seinem Leben ins Gesicht sehen. Ob er das überhaupt kann?
Johann Bargum hat eine begeisternde Novelle abgeliefert: tiefgründig, federleicht erzählt, klug und unsentimental. Sie darf dennoch zu Herzen gehen. Was für ein Juwel hat der kleine Mare Verlag da für uns entdeckt und von Karl-Ludwig Wetzig übersetzen lassen!
Dieses Buch ist unter der EAN 978-3-86648-260-9 erschienen und kostet 18 Euro.
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