Der Thesenanschlag Luthers an der Schlosskirche zu Wittenberg hat sich fest in das kollektive Gedächtnis an das 16. Jahrhundert eingeschrieben. Da stellt sich fast schon automatisch die Frage, was im Rest der Welt geschah, und zwar nicht nur im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Heinz Schilling nimmt uns mit auf eine Beobachtungsreise rund um die Welt und untersucht die Ereignisse dieses Jahres quasi vor Ort, also nach Regionen.
Er beginnt mit dem habsburgisch werdenden Spanien und behandelt in diesem Zusammenhang auch die Fragen nach der Durchsetzung des frühneuzeitlichen Staates insgesamt. Die Osmanen bedrohen gleichzeitig das christliche Abendland durch Erfolge am Nil sowie auf der arabischen Halbinsel und an den Küsten Nordafrikas. Im Osten regiert Iwan der III., der Große, der erfolgreich sein Moskowiter Territorium arrondiert und sich vom Joch der Mongolen befreit.
Dann erfahren wir etwas über zwei Friedensschriften in kriegerischer Zeit: Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam veröffentlichen hoffnungsvolle Entwürfe zu den Gegebenheiten des frühneuzeitlichen Staatensystems. Nikolaus Kopernikus versucht wiederum mit einer neuen Theorie des Geldes, den Währungsverschlechterungen etwas entgegenzusetzen.
Und der Blick weitet sich, denn Europa probiert den Zugriff auf die Neue Welt. Spanier und Portugiesen teilen diese Welt unter sich auf und stecken Einflusssphären ab. Die Portugiesen versuchen außerdem, Kontakte nach China herzustellen, allerdings erfolglos. Die Spanier machen einen ersten Anlauf, in Yukatan zu landen, und treffen auf erbitterte Gegenwehr der Azteken.
Die Renaissance bezieht sich auf die alten griechischen und lateinischen Quellen, auf deren Literatur und Kunst. Die neu gewonnenen Maßstäbe erschüttern die Wertewelt des späten Mittelalters, die trotzdem in Vielem bis in unsere Zeit nachwirkt. Gleichzeitig sammelt der „alte Kontinent“ Weltwissen, versucht, die neuen Fakten, die vielfach durch Reisen gewonnen werden, innerhalb einer neuen Gesellschaft der „lateinisch Informierten“ auszutauschen. Das Rittertum, die Verlierergruppe der Frühen Neuzeit, huldigt einem neuen, anachronistisch zu nennenden Humanismus. An ausgewählten Beispielen erläutert Schilling die Stellung der adligen Frau, die durchaus Einfluss auf den Lauf der Geschichte besaß und zum Teil über bemerkenswerte Freiräume verfügte.
Der rationalen Welterklärung dieser Zeit stehen Orientierungen anderer Art zur Seite, die uns heute fremd erscheinen. Über die Deutung von Himmelsphänomenen, Seuchen, Unwetter und Teuerungen versuchten Menschen zu erfahren, inwieweit Gott ihnen gewogen war. Neben dem Wirken Gottes gab es den Glauben an das Böse, Teuflische durch Hexen und Dämonen sowie den Einfluss der als religiös „unrein“ geltenden Juden und Moslems, der in der Verfolgung oder der Dämonisierung dieser Gruppen mündet.
Wer war Papst in Rom in diesem entscheidenden Jahr? Indem Schilling den als Papst Leo X. amtierenden Medici erfolgreich entdämonisiert, zeigt er uns den Interessenzusammenhang auf, in dem dieser regiert: die Regeln des Medici-Clans und die Entwicklungen in Italien und im Rom dieser Zeit. Den Erfolgen Leos im politisch-finanziellen Zusammenhang stehen schwere Fehleinschätzungen gegenüber, denn der Papst blockiert eine Kirchenreform an Haupt und Gliedern; er verkennt die Brisanz der Lutherprotestes in Wittenberg und ermöglicht damit den Beginn des Prozesses, den wir Reformation nennen. Auch gelingt es ihm weder, ein dauerhaftes antitürkisches Bündnis in Europa auf die Beine zu stellen, noch einen entscheidenden Baufortschritt beim St. Peters Dom zu erreichen – trotz der Prachtentfaltung der Renaissance in Rom.
Im letzten Kapitel dieses Buches resümiert Schilling das Wirken Luthers in diesem Jahr. Er beschreibt den „Ausbruch“ der Reformation in Wittenberg, weitab entfernt vom kirchenpolitischen Kraftzentrum Rom. Denn Luthers Kritik an Rom ist zum großen Teil nur erklärlich durch die typisch deutsche Angst um das Seelenheil. Die evangelische Reformation sucht zu Beginn eine Veränderung der Kirche von unten, von außen. Erst als der Papst und die Kirchenhierarchie darauf nicht reagieren, kommt es zum Bruch.
Im Epilog verknüpft der Autor meisterhaft das Ergebnis seiner detaillierten Spurensuche mit unserer Gegenwart. Ein brillantes Buch, basierend auf einer ungemein breiten Sachkenntnis, geschrieben in einer allgemein verständlichen Sprache. Ein Leckerbissen für alle geschichtlich Interessierten.
Dies Buch ist im Verlag C.H. Beck erschienen und hat die EAN 978-3-406-70069-9. Es kostet Euro 24.95.
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