Christoph Hein - Glückskind mit Vater

Dies Buch versucht, auf dem Hintergrund eines realen Falls die Frage zu klären, ob es ein vorherbestimmtes Schicksal gibt, das einem Menschen einen festgelegten Lebenslauf abverlangt, ihn geradezu erzwingt – ihm also keine andere Wahl lässt, als sein Fatum zu ertragen. Die Rede ist von Konstantin Boggosch, eigentlich Müller, dessen Mutter kurz nach Kriegsende den Familiennamen trotz behördlicher Vorbehalte ändern lässt, weil der Vater Gerhard Müller ein großer Nazi und Leuteschinder gewesen ist.

  Konstantin Boggosch war in der ehemaligen DDR Lehrer und ist zum zweiten Mal verheiratet. Jetzt, wo er – längst nach der Wende 1989 – den Ruhestand erreicht hat, möchte eine junge Reporterin der Lokalpresse ihn zu seinem Schulwerdegang und überhaupt zu seinem Lebenslauf befragen. Boggosch lehnt ab und versucht seiner Frau Marianne zu erklären, warum er die Vergangenheit nicht noch einmal wieder aufleben lassen möchte. Und trotzdem gelingt es ihm nicht, all das Vergangene zu verdrängen.

 Er erzählt in einer Art innerem Monolog sein Leben: von seiner Jugend im entstehenden SED-Staat mit den Schikanen, die das neue System für die Angehörigen der gewesenen Nazis bereithielt. Von seinem frühen Ausbruchsversuch nach Frankreich, wo er zur Fremdenlegion gehen möchte, die ihn aber nicht aufnimmt. Von seiner Freundschaft zu jüdischen Mitmenschen, auf die er in Frankreich stößt, die ihn natürlich ohne Kenntnis seiner Abstammung uneigennützig fördern. Er erzählt von seiner Rückkehr in die DDR über das Berlin der Sechzigerjahre, vom Versuch, trotz Abitur und einer schrecklichen Abstammungsbürde ein Studium beginnen zu dürfen.

 Er erzählt von seiner Freundin und späteren Frau, die bei der Geburt ihres ersten Kindes an einer seltenen Krankheit stirbt. Auch das Kind überlebt nicht. Er erzählt von seiner Ausbildung zum Lehrer, die er mit Leidenschaft absolviert, ein Pädagoge, der für seine Inhalte brennt, der Schüler anders behandeln will als alle seine Vorgänger. Er erzählt von seinem Versuch, als Schulleiter den Systemwechsel in den Westen zu bewerkstelligen. Auch das scheitert, weil ein Karrierist ihm das vom Kollegium gewollte Amt mithilfe des neuen Ministeriums wieder abnimmt.

 Konstantin Boggosch ist niemals wehleidig, sondern versucht, aus den Fußstapfen des Vaters herauszutreten. Anders als sein Bruder Gunthart strebt Boggosch eine Gleichheit der Menschen an. Aber die Verhältnisse zeigen ihm immer wieder, wie eng der Radius ist, den die Geschichte der beiden Deutschlands dem Menschen zugesteht

 Mich hat dieses Buch an die großen griechischen Tragödien erinnert, die zeigen, wie klein der Mensch im Mahlwerk der Geschichte ist. Was für ein tolles Buch: Ich möchte es unbedingt empfehlen!

 Dies Buch ist im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet 22.95€.

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